Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Gewesenen zum letzten Mal der Illusion hingeben, man könne sich vor der auflösenden Macht des Fortschritts in Sicherheit bringen. Was meinen Sie – wenn man denn Globalisierung als Fortschritt nimmt: Leben wir in einer postmodernen Biedermeierzeit?
Sloterdijk: Ganz sicher. Die Globalisierung hat sozialpsychologisch dort, wo sie erfolgreich ist oder war, besser gesagt, wo sie auf eine längere Akkumulation von Komfortmitteln zurückblickt, einen paradoxen Menschentypus hervorgebracht: den unzufriedenen Zufriedenen. Und genau das ist der Biedermeiermensch und eo ipso der Mensch der Gegenwart in den Metropolen des bequemen Lebens. Nietzsche kritisiert einmal den Schriftsteller und ehemaligen Theologen David Friedrich Strauß als einen rechten »satisfait«. Der Begriff ist nützlich, denn die Deutschen von heute sind im wesentlichen satisfaits, aber eben unzufriedene satisfaits. Sie sind mit ihrer eigenen Zufriedenheit unzufrieden, weil sie spüren, daß sie damit teilweise unter ihren Ansprüchen an ihr eigenes Leben bleiben. Sie sind existentiell zugleich unterfordert und überfordert. Das ist das sozialpsychologische Resultat der erfolgreichen Errichtung des Komfortsystems in der westlichen oder verwestlichten Welt. Nur in diesem Kontext kann man übrigens den Sinn des Ausdrucks Globalisierung präziser festlegen: Er bezeichnet im Grunde ausschließlich die große Komfortsphäre, in der die westlichen Sozialstaaten und die Neureichen aus den jungen kapitalistischen Ländern leben. Jedermann weiß, daß diese Sphäre umgeben ist von einer trostlosen Außenzone, der planetarischen suburbia. Man stiftet arge Verwirrung, wenn man den Begriff Globalisierung so verwendet, als ob es ein inklusives Weltsystem oder gar eine Weltgesellschaft gäbe. Ich schlage vor, den Begriff der Globalisierung zu beschränken auf die Geschichte der Herstellung des großen Komfortsystems, zu dem wahrscheinlich nicht mehr als ein Viertel der Menschheit gehört. Daneben gibt es eine riesige Peripherie, deren Bewohner keine Chance haben, je dort hineinzukommen, und eine Semi-Peripherie, für die der Eintritt in das Komfortsystem in greifbarer Nähe liegt, vielleicht nicht in dieser, doch in der nächsten oder übernächsten Generation. Das sind im übrigen die Zonen, in denen die höchste Ehrgeizdynamik wirkt. Man sieht das gegenwärtig bei den neuen Beitrittsländern zur EU : Da sind, wie in semiperipheren Ländern typisch, noch echte Ambitionsdynamiken am Werk, vergleichbar denen, die die heutigen »satisfaits-Europäer« von den fünfziger Jahren an durchlebt haben, in jenen glücklichen Zeiten, als die Appetite in einer optimalen Relation zu den Befriedigungsmöglichkeiten standen. Man hat großen Ehrgeiz, man weiß, man muß nur eine Weile hart arbeiten, dann kann man bestellen. Das waren goldene Zeiten, sie werden nicht wiederkehren.
PANTEL: Den eigenen Wohlstand offen zu zeigen, sagen Sie, sei durchaus positiv zu bewerten, doch es müsse noch etwas hinzukommen, wie man es in den USA beobachtet. Dort ist Reichtum ziemlich fest mit der Pflicht zur Wohltätigkeit, mit der Bereitschaft, etwas abzugeben, verbunden. Ist das für Sie ein Ideal? Sollte man das auch von den europäischen Unternehmen verstärkt einfordern? Ist die großzügige Einstellung bei uns nicht genug entwickelt?
Sloterdijk: Absolut! Aber man kann dergleichen naturgemäß nicht fordern, allenfalls fördern. Ich glaube, das ist die größte sozialpsychologische Aufgabe der nächsten Generation. Auch wir müssen daran arbeiten, ein Klima der öffentlichen Großzügigkeit vorzubereiten, in dem nicht immer nur auf den Staat gewartet wird. Wir warten auf eine Praxis ganz normaler Helden der Großzügigkeit, falls Sie diesen Ausdruck erlauben. Wir brauchen mehr Menschen, die überzeugt sind, etwas übrig zu haben, und die es für normal halten, mehr zu geben, als die Steuer ihnen nimmt. Das wären Menschen, die aufgrund ihrer Selbsteinschätzung von sich verlangen, viel abzugeben – jenseits des Höchststeuersatzes. Darüber hinaus ist es höchste Zeit dafür, durch die Weiterentwicklung des Stiftungs- und Spendenrechts dafür sorgen, daß ein immer größerer Anteil der Umverteilungssummen intelligentes Geld wird. Denn: Steuern sind dummes, blindes, anonymes Geld, Niemandsgeld. Es fließt in riesenhaften Summen in die Kasse irgendeines Ministers oder Administrators und wird auf mehr oder weniger durchsichtige, aber indifferente Weise über Gerechte und Ungerechte
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