Ausgeweidet (German Edition)
sie bestätigt die Ankunft bei Erika Wagner um halb acht, auch sie beharrt darauf, dass es ein Abend wie jeder andere gewesen sei, nur mit dem Unterschied, dass diesmal Erika endlich ihren Geiz überwunden und anstatt der sonst üblichen Hausmarke Champagner gereicht habe. Auch das Essen sei wieder sehr schmackhaft gewesen, aber das sei ja nicht Erikas Verdienst.
»Worüber haben Sie sich an diesem Abend unterhalten?«
Charlotte sieht sie irritiert an. »Das können Sie sich doch wohl denken. Seit dem Beginn der Gerichtsverhandlung gab es kein anderes Thema mehr.« Der leicht gereizte Ton lässt die hohe Stimme der alten Dame noch schriller klingen. Maria schreckt zusammen, schiebt aber sofort die nächste Frage nach. »Nach dem Urteil müssen Sie doch ziemlich aufgebracht gewesen sein?«
»Nein, eigentlich nicht, eher enttäuscht. Zornig waren wir die Jahre zuvor, als wir miterleben mussten, wie Senta verzweifelt versucht hat, ihr Kind vor diesem Mann zu schützen.«
»Kennen Sie Senta Hartmann gut?«
»Gut ist vielleicht übertrieben. Irma und ich, wir kennen sie schon, seit sie ein Kind war, hatten aber in den letzten Jahren nur selten Kontakt zu ihr. Erika war es, die uns immer auf dem Laufenden gehalten hat.«
»Trauen Sie Erika Wagner einen Mord zu?«
Diese Frage kommt für Charlotte Prochnow so überraschend, dass es ihr die Sprache verschlägt.
»Das glaube ich jetzt nicht, was Sie mich gerade gefragt haben. Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Nur weil sie Jägerin ist und den Ermordeten kannte? Meine Güte, Sie haben vielleicht eine morbide Fantasie. Daran sollten Sie arbeiten.«
Sie erhebt sich von ihrem Sofa und gibt Maria Esser zu verstehen, dass die Befragung zu Ende ist. Der klassische Rausschmiss. Maria lässt sich nicht lange bitten.
Der Flur des Polizeipräsidiums ist hell erleuchtet, und die Fenster wirken wie schwarze Löcher. Clemens schaut hinaus, aber die Spiegelung lässt nichts erkennen. Da fällt ihm die Postkarte wieder ein, die er achtlos in die Jackentasche gesteckt hat. Er holt sie heraus und muss lächeln. Da schauen ihn seine Eltern nebst Schwester gut gelaunt an, im Hintergrund ist der Bauernhof seiner Schwester zu sehen. Er dreht die Karte um und erkennt die Handschrift seines Vaters, immer noch sehr akkurat, wenn auch etwas zittrig. Man würde ihn ja nie erreichen, und so probiere er es mal ganz konventionell mit schönen Grüßen aus dem Urlaub. Clemens schmunzelt. Und zuckt zurück, als er merkt, dass Maria neben ihm steht und die Karte liest. Sie grinst übers ganze Gesicht.
»Dich nennen sie also immer noch den Kleinen, ich glaub es nicht.« Sie lacht schallend los.
»Das gehört sich nicht, Post anderer zu lesen«, weist Clemens sie verschmitzt zurecht.
Maria kontert: »Bei Postkarten gibt es kein Briefgeheimnis, sind ja Postkarten.«
Die beiden kichern noch, als sie sich einen Espresso besorgen und zur Besprechung gehen.
»Wehe, du plauderst unser Geheimnis aus«, ermahnt Clemens Maria in gespielt strengem Ton.
»Ich halte schon dicht, mein Kleiner«, kann sich Maria nicht verkneifen. Und Clemens ahnt, dass ihm dieser Spitzname nachhängen wird.
Die Kollegen haben sich schon eingefunden, und Clemens ergreift sofort das Wort: »Das war heute ein ziemlich anstrengender Tag. Wenn nichts Ereignisreiches zu verkünden ist, dann lasst es uns kurz machen. Wir brauchen alle mal eine Verschnaufpause. Maria, wie war die Befragung der Canasta-Damen?«
»Nicht so ergebnisreich. Die sind ganz schön taff, jede auf ihre Art. Da wird munter rumgezickt, und die eine oder andere bissige Bemerkung über die jeweilige Freundin durfte ich mir auch anhören.« Maria muss einen Lacher unterdrücken und verschluckt sich so heftig, dass sie kaum Luft bekommt. »Aber dennoch, die sind eine eingeschworene Gemeinschaft, die halten zusammen wie Pech und Schwefel. Charlotte Prochnow habe ich direkt gefragt, ob sie Erika Wagner einen Mord zutrauen würde.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Das wäre absurd, und dann hat sie mich höflich rausgeworfen.«
»Und was sagt dir dein Bauchgefühl?«
Maria überlegt. »Hm, ich kann mir schon vorstellen, dass die beiden alles tun würden, um Erika Wagner zu schützen. Übrigens, ehe ich es vergesse: Sie sind mit dem Taxi gekommen. Ich habe Maria Ndereba angerufen, die fährt sie immer, und sie bestätigte mir, die zwei pünktlich um halb acht in der Goethestraße abgesetzt zu haben. Da sie diesmal aber in Eile war, hat sie nicht gewartet,
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