Ausländer
kämpfte.
Sie schüttelte den Kopf. »Er liegt in einem Lazarett in Charlottenburg. Er wurde in Stalingrad schwer verwundet. Vati meint, er könnte ein Bein verlieren. Begleitest du mich, wenn ich ihn besuche? Ich will da nicht allein hin.«
Tags darauf machten sie sich mit der U-Bahn vom Bahnhof Zoologischer Garten aus auf den Weg. Während der Fahrt gab Anna alles wieder, was sie bisher erfahren hatte; Peter hatte Mühe, sie über das Rattern der Räder hinweg zu verstehen. »Er ist aus dem Kessel, wie sie es nennen, ausgeflogen worden.«
Über Stalingrad war in den Nachrichten viel berichtet worden. Die 6 . Armee hatte die Stadt fast erobert, war jetzt aber von sowjetischen Truppen eingeschlossen und kämpfte ums Überleben.
Nicht einmal die Zeitschriften der Hitlerjugend versuchten, die Schwierigkeiten zu verschleiern, vor denen die deutschen Truppen dort standen. Die Zeichnungen neben den Artikeln zeigten Soldaten mit Schals und Winterkleidung, zwischen Bergen von Schnee und nicht selten verwundet. Zwar strahlten die Männer auf diesen Bildern eine heroische Widerstandskraft aus, aber sie waren unrasiert und offenbar am Rande der Erschöpfung. Wenn sie uns schon so etwas zeigen , dachte Peter, wie schlimm muss es dann in Wirklichkeit sein ? Er dachte an die HJ -Jungen, die darauf brannten, Soldaten zu werden, und es kaum mehr abwarten konnten, in den Kampf zu ziehen. Etwas wie Stalingrad schwebte ihnen bestimmt nicht vor.
Auf den Fluren des Krankenhauses herrschte eine bedrückende Atmosphäre. Schweigend und mit finsterer Miene saßen Angehörige der Patienten auf Stühlen unter reifbedeckten Fenstern. Einbeinige humpelten auf Krücken vorbei, Schwestern und Ärzte eilten nervös zwischen den Krankenzimmern hin und her. Obwohl eine unheimliche Stille über dem Gebäude lag, schien es aus allen Nähten zu platzen.
Stefan teilte sich das Zimmer mit etwa zwanzig anderen Männern, allesamt schwer verletzt. Das schloss Peter daraus, dass sich jetzt zur Besuchszeit an jedem der Betten zwar eine Traube von Leuten eingefunden hatte, aber alle nur im Flüsterton sprachen.
Es roch so stark und durchdringend nach Desinfektions- und Bleichmitteln, dass ein anderer Gestank davon fast überdeckt wurde. Aber nur fast: der süßliche Gestank von Verwesung. Peters erster Impuls war zu fliehen. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
Als Annas Bruder lächelte, was ihn einige Mühe kostete, erkannte Peter, was für ein attraktiver Mann Stefan eigentlich war. Man sah sofort, dass er und Anna Geschwister waren.
»Du bist also Peter!«, sagte Stefan und streckte langsam den Arm aus, um Peter die Hand zu schütteln. So etwas wie ein »Heil!« kam ihm nicht über die Lippen.
»Ich kann mich kaum rühren, Liebes«, sagte Stefan mit matter Stimme, als Anna ihm einen Kuss geben wollte. »Mein Bein hat ein Schrapnell abbekommen und ist schlimm entzündet.«
Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf das Bett, um sich abzustützen. Stefan unterdrückte einen Aufschrei, als das Bettzeug gegen seine Wunde drückte. Sofort schnellte Anna zurück, bestürzt über ihre Tollpatschigkeit.
Sie setzten sich und rückten möglichst nah heran, um zu hören, was Stefan ihnen erzählen wollte.
»Ich habe Glück gehabt, dass ich herausgekommen bin«, sagte er mit leiser Stimme. »Die Flugplätze in Stalingrad sind eine Katastrophe. Jeden Tag stürzen Maschinen ab, wenn sie bei diesem Schnee versuchen, herein- oder herauszukommen. Und sie liegen unter ständigem Beschuss durch die Russen. Die Verwundeten, die in den Feldlazaretten bei den Flugplätzen untergebracht sind und noch gehen können, wollen so verzweifelt von dort wegkommen, dass sie sich an die Flügel der anrollenden Ju 52 klammern, bis sie vom Luftstrom weggerissen werden …«
Bei der Erinnerung daran zuckte er zusammen.
»Reg dich nicht auf, Stefan. Ruh dich einfach aus«, sagte Anna. »Wir bleiben hier bei dir.«
»Nein. Hört mir zu. Ich muss euch das alles erzählen«, sagte er.
»Also, was genau ist passiert?«, fragte Peter.
Stefan beugte sich vor und fuhr flüsternd fort.
»Wir hatten unser Hauptquartier nicht weit vom Fluss entfernt. Plötzlich wurden wir bombardiert, dauerhaft und intensiv. Wir wunderten uns, dass die Russen noch solche Kräfte hatten. Schließlich war es vorbei. Die Stille danach war die furchtbarste, die ich je erlebt habe … Dann hörten wir das Aufheulen von Panzermotoren. Panzer – fast direkt über uns. Sie
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