Ausländer
danach auf den verheißungsvollen Frühling.
Aber dieses Jahr war es anders. Jedermann spürte es. Die Russen hatten immer noch nicht kapituliert. Die Amerikaner zogen drüben in England ihre Truppen zusammen. Die Sieges-Serie, die Hitler dem deutschen Volk präsentiert hatte, war zum Stillstand gekommen. Aber zumindest stieß die deutsche 6 . Armee im Kaukasus – tief im Süden der Sowjetunion – immer noch weiter vor. Die deutschen und japanischen Streitkräfte würden sich bald in Indien treffen. Und die Truppen von General Paulus standen kurz davor, Stalingrad einzunehmen.
So hieß es jedenfalls in den Zeitungen. Bevor er es sich mit Ula Reiter verdorben hatte, hatte sie Peter von einer bei ihrerZeitschrift eingegangenen Presseerklärung erzählt, in der die Einnahme der Stadt verkündet wurde. Allerdings war diese Presseerklärung mit einer Vorbehaltsklausel versehen: »Zurückhalten, bis Autorisierung durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda erfolgt.« Diese Autorisierung war aber nie gekommen.
In Stalingrad war etwas Gigantisches im Gang. Traudl gehörte einer der vielen BDM -Scharen an, die den Auftrag hatten, an den Bahnhöfen die eintreffenden verwundeten Soldaten aus dem Osten zu begrüßen. Den Verletzten in den Militärlazaretten überbrachte sie Blumensträuße, und für diejenigen, die zu krank oder zu verwundet waren, um selbst schreiben zu können, verfasste sie Briefe. Als Peter sie nach diesen Tätigkeiten fragte, erwartete er, sie würde langatmig und feierlich über Deutschlands unabwendbaren Endsieg reden. Aber stattdessen schüttelte sie nur mit besorgter Miene den Kopf. »Es sind so viele …« Mehr wollte sie nicht dazu sagen.
Peter vermisste Anna sehr, vor allem da auch Segur auf Distanz zu ihm gegangen war. Die Prügel, die Segur bezogen hatte, schienen ihm allen Mut geraubt zu haben. Er gab keine dieser vernichtenden Witzeleien mehr von sich, die Peter so amüsiert hatten. Segur und besonders Anna waren sein Sicherheitsventil. Mit ihnen konnte er über alles reden, wodurch ihm das Leben dann wieder ein wenig erträglicher erschien. Ohne sie aber hatte er schreckliche Träume, in denen er während des Schulunterrichts oder bei einem HJ -Treffen aufstand und genau das Falsche sagte.
Frau Kaltenbach fiel auf, dass er sich verändert hatte. »Was ist mit diesem reizenden Mädchen, Anna? Habt ihr euch verkracht?«, fragte sie ihn eines Tages in der Küche, als er an der Spüle Kartoffeln schälte.
Peter war ein miserabler Lügner. »Ja. Ein bisschen. Mir ist es etwas zu eng geworden. Ich wollte mehr Zeit mit meinen Freunden verbringen.«
Frau Kaltenbach lachte. »Sie hat dir den Laufpass gegeben, stimmt’s? Du siehst schon die ganze Zeit so bedrückt aus.«
Es war kein schadenfrohes Lachen, und Peter war froh, dass sie ein wenig Anteilnahme zeigte.
»Tja, das hätte sie besser nicht gemacht. Sie wird lange suchen müssen, bis sie wieder einen so prima Jungen findet wie dich.«
Peter wurde rot. Er wollte eigentlich lieber über etwas anderes reden.
Erst Anfang Dezember nahm Anna wieder Kontakt mit Peter auf. Seit ihrem hastigen Gespräch vor der Bibliothek hatten sie sich nur ein- oder zweimal zufällig auf der Straße gesehen und lediglich noch einmal in der Bibliothek, obwohl Peter oft dort war in der Hoffnung, sie zu treffen. Doch sie war ihm stets aus dem Weg gegangen. Nicht einmal ein Winken oder ein Lächeln hatte sie für ihn übriggehabt. Allmählich hatte ihm das Ganze wirklich zu schaffen gemacht.
Eines Tages jedoch, auf dem Heimweg von der Schule, war sie plötzlich neben ihm aufgetaucht und hatte ihren Arm unter seinen geschoben. Beschwingt wie eh und je. »Ich hatte recht«, sagte sie grinsend. »Sie haben schließlich nachgegeben. Mutti sagte: ›Ich ertrage es nicht, dich so niedergeschlagen zu sehen. Wenn du Peter treffen willst, dann tu es. Aber keine Tanzveranstaltungen mehr. Nichts Dummes und Gefährliches.‹ Das bedeutet, es gibt auch kein heimliches Radiohören mehr. Wennsie uns bei irgendeiner Aktion dieser Art erwischen, stecken sie mich wahrscheinlich in ein Kloster, um mich vor weiteren Dummheiten zu bewahren!«
Drei Tage später stand sie bei den Kaltenbachs vor der Tür. Ihre Augen waren rot vom Weinen. »Es geht um Stefan«, sagte sie. »Er ist zurück in Berlin.«
»Aber das ist doch gut, oder?«, erwiderte Peter. Anna hatte oft von ihrem Bruder gesprochen und darüber, welche Sorgen sie sich machte, weil er im Ostland
Weitere Kostenlose Bücher