Ausländer
aufpassen, was wir hier reden. Auf dem Heimweg erzähl ich dir alles.«
Erst einmal wussten sie nichts mehr zu sagen. Also saß sie einfach nur neben ihm und lehnte den Kopf an seine Schulter. Peter roch zu gern ihr Haar und genoss es, ihre Wärme zu spüren. Am liebsten wäre er für immer so sitzen geblieben.
Als sie das Café verließen, hatte es aufgehört zu regnen. Hand in Hand gingen sie nach Hause.
»Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?«, fragte Peter schließlich.
Sie drückte seine Hand noch fester. »Ich musste es Mutti und Vati versprechen. Je mehr Leute davon wissen, desto gefährlicher wird es. Sie haben sich ein paar Tage nach dieser Tanzveranstaltung entschlossen, mich einzuweihen. Und sie haben gesagt, dass alles, was die Aufmerksamkeit der Gestapo auf unsere Familie lenkt, uns in Gefahr bringt. Und ebenso die Menschen, denen wir helfen.«
»Hast du denn gar keine Angst?«, fragte Peter noch einmal. Er jedenfalls hatte Angst.
»Vor ein paar Monaten, als ich damit anfing, schon«, gestand Anna. »Ich habe mich wirklich gefürchtet. Doch dann habe ich an ein Foto gedacht, das Stefan mir gezeigt hat. Er hatte es einem der Soldaten in seiner Division abgenommen. So etwas Schreckliches habe ich noch nie im Leben gesehen.
Es war unscharf und zerfleddert, aber man erkannte doch deutlich, was sich dort abspielte. Eine Gruppe von Frauen in Unterwäsche stand mit dem Rücken am Rand eines breiten Grabens. Ich weiß nicht, wo das war, vermutlich irgendwo im Ostland. Und in dem Graben lagen haufenweise Leichen. Kannstdu dir das vorstellen? Wie es ist, da zu stehen und auf die Kugel zu warten?«
Sie hielt einen Moment inne und versuchte sich zu fassen.
»Aber das Schrecklichste an dem Bild war … dass zwischen den Frauen auch ein kleines Mädchen stand. Vielleicht acht oder neun Jahre alt. Und die Kleine wandte den Kopf, um den Haufen Leichen hinter sich zu sehen. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber es sah aus, als würde sie die Hände vor Entsetzen an die Brust pressen. Dass ein Kind so etwas Grauenhaftes sehen muss, dass ihm DAS angetan wird, das ist einfach unvorstellbar …
Mutti ist sicher, dass das alles Juden waren«, fügte sie hinzu. »Sie hört furchtbare Gerüchte über Todeslager im Osten, in denen Juden zu Tausenden umgebracht werden – hinter Stacheldraht, nicht auf freiem Feld. Wir mussten einfach etwas tun, um ihnen zu helfen.«
Das Ganze war so schrecklich, dass ihm die Worte fehlten. Peter hielt sie fest an der Hand und schluckte mühsam. »Wie kann ich euch unterstützen?«, fragte er. Seine Stimme klang tapferer, als er sich fühlte.
Kapitel dreiundzwanzig
14. Februar 1943
Ula Reiter spielte nervös mit dem Telefonkabel, während sie sprach. »Und wie geht es Onkel Klaus?«, fragte sie, um eine ruhige Stimme bemüht.
Otto Reiter zuckte zusammen, als blechern die aufgeregte Antwort aus dem Hörer ertönte. »Onkel Klaus« war das Codewort, das sie benutzten, wenn sie über die jüdischen Familien sprachen, denen sie halfen. Er konnte nicht genau verstehen, was gesprochen wurde, aber es klang nicht nach guten Neuigkeiten.
»Und die übrige Familie?«, wollte seine Frau wissen. »In Ordnung. Wir werden sehen, was wir tun können.«
Mit einem schweren Seufzer legte sie den Hörer auf und drehte sich zu Otto um. »Wir müssen noch mal Lebensmittelmarken sammeln. Frau Niemann weiß nicht mehr ein noch aus. Die Abrahams sind alle krank, und sie ist überzeugt, dass die Mangelernährung daran schuld ist.«
»Ein Paar und fünf Kinder …«, entgegnete Otto und hob verzweifelt die Arme. »Du musst ihnen sagen, dass es unmöglich ist. Wenn sie zusammenbleiben, riskieren sie, dass die Leute, die ihnen geholfen haben, verhaftet und hingerichtet und sie selbst alle nach Auschwitz deportiert werden – oder sie können Vernunft annehmen und sich aufteilen.«
Er war in diesen Dingen immer sehr realistisch.
Ula griff nach der Keksdose, in der sie die Lebensmittelkartenaufbewahrte, und zählte sie rasch durch. »Wir haben genug für ein Kilo Fleisch, fünfhundert Gramm Margarine, drei Kilo Brot und zwei Kilo Konserven. Damit können sie kaum eine Woche überleben.«
Otto stimmte ihr zu. »Heute Abend kommen die Schäfers. Ich bin sicher, dass sie sich beteiligen werden.«
Oberst Ernst Schäfer war Ottos Freund im Hauptquartier des Ersatzheers. Er und seine Frau Magda waren immer bereit zu helfen.
Den meisten Juden, die die Reiters und Schäfers vor dem Krieg
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