Ausnahmezustand
rechnen dürfen, rücken private Sicherheitsdienste oder gleich die Polizei selbst an, um jene Bauern zu vertreiben, die ihren Boden nicht für ein paar Rupien verkaufen. Oft ist nicht einmal pro forma ein Kaufangebot nötig. Viele Familien bewirtschaften seit Generationen ihr Stück Land, ohne durch Papiere als Eigentümer ausgewiesen zu sein. Eines Tages steht vor der Hütte ein Anwalt mit einem Kaufvertrag, den sein Mandant mit dem Staat abgeschlossen hat. Die Fünfundzwanzigtausend, die zum Parlament nach Neu Delhi marschieren, sind keine Unterstützerbewegung, sondern durchweg Betroffene.
Bei Babam Saharia kam das Forstamt vorbei, das Forst Department, um genau zu sein. Als Angehöriger eines sogenannten «primitiven Stammes» ist er in den Wäldern aufgewachsen, lebte wie seine Vorfahren von allem, was an und unter den Bäumen gedeiht,Früchten, Nüssen, Linsen. Papiere, die sie als Eigentümer auswiesen, hatte niemand. Ein Großgrundbesitzer aus der Gegend kaufte das Stück Land, das Babam Saharia und seine Nachbarn bewirtschafteten – indem der Großgrundbesitzer die Beamten bestach, ist sich der vierzigjährige, dürre Mann mit den beinah weißen Haaren sicher. Forstwächter standen mit Waffen vor seiner Hütte, auch die Polizei. Die Bauern wurden mitsamt ihren Familien zusammengetrieben, auf die Ladefläche eines LKW gepfercht und hinter den Bergen abgesetzt. Wenn Ihr zurückkehrt, töten sie euch, gaben ihnen die Bewacher mit auf den Weg.
– Wann geschah die Vertreibung? frage ich.
– 1983.
– 1983? Aber da waren Sie doch erst sechzehn Jahre alt.
– Ich lebte damals schon mit meiner Frau. Die Kinder kamen später.
– Und Ihre Frau?
– Ist gestorben.
Saharia wurde Tagelöhner, ohne die Hoffnung aufzugeben, seinen Boden zurückzugewinnen. Die Fußsohlen vollständig auf dem Boden, sitzt er in der Hocke und holt aus seinem Styroporbeutel die Briefe hervor, die er und seine Nachbarn seither verschickt haben. Auf manchen Briefen ist eine handschriftliche Notiz eines Beamten, einmal sogar des Forstministers auf Englisch zu erkennen. «Forward for immediate action», heißt es dort, oder einfach nur «approved». Aber nichts geschah, meint Saharia bitter, einfach nichts, obwohl er doch nur sein Recht verlange. Einmal hat er dem Großgrundbesitzer aufgelauert, ihn angegriffen, mit bloßen Händen, wie er betont. Zweiundzwanzig Tage saß Saharia dafür im Gefängnis. Vor einigen Jahren schloß er sich der Landrechtsbewegung an, um nicht zu den Freischärlern zu gehen.
Himmel und Boden
Unfaßbar sind Organisation und Disziplin. Der Jeep, der sich den Weg bahnt, um mich wieder an die Spitze des Marsches zu bringen, gleitet wie durch Wasser, so geschmeidig öffnen sich die Reihen und schließen sich hinter dem Auspuff wieder. Pro Tausendschaft fährt ein Lastwagen mit den Lebensmitteln zu den Lagerplätzen voraus. Das Wasser füllen sie kostenlos an Tankstellen auf. Eine warme Mahlzeit täglich kennen die wenigsten von zuhause. In den Heimatdörfern steht ein Faß, das die Nachbarn nach und nach mit Korn für die Familie derer gefüllt haben, die auf den Marsch geschickt worden sind. Nach dem Essen breitet sich entspannte Geschwätzigkeit aus. In Grüppchen sitzen die Menschen auf der Straße wie bei einem Happening. Dann wie auf ein Signal wieder Geschäftigkeit, da sich vor Einbruch der Dunkelheit noch alle gründlich reinigen, die Frauen vor den Wasserwagen, die Männer meistens vor Schläuchen, mit denen sie sich gegenseitig abspritzen, stets mit Seife, die zugleich als Shampoo dient und den Frauen als Waschmittel für ihre Saris. Verblüffend ihre Geschicklichkeit, die Scham zu schützen, verblüffend überhaupt die Würde, die sie selbst beim Einseifen bewahren, während die Westler in ihren staubigen kurzen oder langen Hosen und den verschwitzten T-Shirts ziemlich verschlissen aussehen. Neben der Straße sind Gräben ausgehoben, quer darüber Holzbretter. Stöcke ragen aus der Erde, um die eine blauweiße Plastikplane so herumgeführt worden ist, daß die fünfhundert Klos Kabinen haben.
Die zentrale Forderung der Landlosen ist verblüffend moderat. Keine Umverteilung, keine Enteignungen, nicht einmal neue Gesetze; die Regierung soll lediglich die Bodenreform, die in der Verfassung verankert ist, umsetzen und den öffentlichen Boden an die Landlosen verteilen. Außerdem verlangen sie die Einrichtung einer Behörde oder einer Kommission, an die sich jeder Inder wenden kann, der illegal von
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