Ausnahmezustand
seinem Boden vertrieben worden ist. Bis jetzt, beklagen die Bauern, würden sie mit ihren legitimen Anliegen vomDistrikt an den Bundesstaat und vom Bundesstaat nach Delhi verwiesen – und von dort wieder zurück.
– Wir setzen auf den Dialog mit den Politikern, nicht auf Konfrontation, betont der Führer der Landrechtsbewegung, den alle nur Rajagopal nennen, ein sanfter Mann von beinah sechzig Jahren mit schwarzem Schnurrbart und jungenhafter Frisur.
Seine Bewegung
Ekta Parishad
ist den Idealen Gandhis verpflichtet und setzt sich damit von den Naxaliten ab, der maoistischen Widerstandsgruppe, die im Nordosten Indiens inzwischen ganze Landstriche kontrolliert. Natürlich geht es um mehr als um eine neue Behörde. Es geht um Aufmerksamkeit:
– Die indische Mittelklasse ist es, die wir erreichen wollen. Sie muß erkennen, daß die Armut, die sich ausbreitet, ihren eigenen Wohlstand, ihre eigene Sicherheit bedroht.
Die Bauern, die ihre Lebensgrundlagen verloren hätten, landeten zwangsläufig in den Slums der Großstädte.
– Niemand mag Slums vor der Haustür haben, sagt Rajagopal beim kargen Abendessen in einer Grundschule, in deren Hof er mit den anderen Städtern sein Nachtlager hat, Professoren, Journalisten, Studenten, während die Bauern auf dem Feld neben der Autobahn oder auf dem Teer schlafen: Slums gelten den Bürgern als schmutzig, als Quell von Krankheit, Gewalt und Kriminalität. Also sagen wir: Hört endlich auf, ständig neue Slums zu produzieren.
Wenn die Armut immer größer und der Reichtum durch Fernsehen und Kino immer sichtbarer werde, fährt Rajagopal fort, komme es zwangsläufig zu Konflikten, wenn nicht zu einer sozialen Explosion. Doch die indische Mittelklasse schaue wie gebannt in den Himmel der Globalisierung, verblendet durch den eigenen ökonomischen Aufstieg und die Segnungen des Konsum:
– Es wird Zeit brauchen, bis sie merken, daß unter ihnen der Boden wegbricht.
Ram Paydiri versteht nicht
Ram Paydiri aus dem Dorf Kali Pari im Distrikt Shivpuri, Bundesstaat Madhya Pradesh, will mir die Füße küssen, als sie erfährt, daß ich im Ausland über den Marsch berichte. Sie ist Witwe, fünfzig, schneeweiße Haare, von ihrem Hektar Land vertrieben vor langer Zeit, auch sie wurde verprügelt, darf nicht einmal in die Nähe ihres Bodens kommen, die vier Kinder sind in die Stadt gezogen. An guten Tagen erwischt sie einen Job, auf dem Feld oder irgendeine Handarbeit, 50 Rupien für sie weiß nicht wieviele Stunden, ein Euro umgerechnet. Sie lebt in einer Hütte aus Stroh. Warum sie hier ist?
– Wir sind bereit, zu sterben, um unser Land wiederzubekommen. Was macht sie, wenn sie zurückkehrt?
– Weiterarbeiten.
Und was, wenn sie alt ist, gebrechlich?
– Arbeiten, solange ich Beine und Hände habe.
Aber wenn sie nicht mehr arbeiten könne? Sie sei doch ganz allein.
Ram Paydiri versteht nicht.
DAS LABORATORIUM
Gujarat, Oktober 2007
Ein Idol
Spricht so ein Fundamentalist? Narendra Modi spricht nur von Technologie und Wirtschaft. Die Daten, die er präsentiert, sind glänzend: Der indische Bundesstaat Gujarat, den Modi seit 2001 regiert, weist das höchste Wirtschaftswachstum ganz Indiens aus, die größten Sonderwirtschaftszonen, die rasanteste Industrialisierung, die meisten Investoren, die niedrigsten Steuern, die höchsten Forschungsausgaben, die liberalsten Wirtschaftsgesetze. Jede neue Zahl bekräftigt der Chief Minister, wie ein Ministerpräsident in Indien heißt, indem er die kräftigen Hände abwechselnd nach vorne schmeißt wie ein Dirigent seinen Stock mit dem letzten Takt. Anders als seine Vorredner ist er nicht nach rechts zum Rednerpult gegangen, sondern steht in der Mitte der Bühne, wo er kleiner und noch rundlicher als auf den Plakaten wirkt. Zum weißen, kurzgeschnittenen Bart trägt er eine randlose Designerbrille. Das weiße, knöchellange Gewand ist nach neuer Mode kurzärmelig wie ein Businesshemd.
Zwischen den Sätzen legt Modi lange Pausen ein, als wolle er außer seiner tiefen, krächzenden Stimme auch die Argumente nachklingen lassen. Keine starken Emotionen, nicht einmal etwas Werbendes im Tonfall. Der Chief Minister tritt als die personifizierte Rationalität auf. Nach einer halben Stunde achte ich nicht mehr auf den Übersetzer neben mir, sondern nur noch auf die englischen Wörter, die in jedem Satz vorkommen:
development, capacity, management, computer, technology, software, screening, engeneering, industry, advanced, laser printer
und
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