Ausnahmezustand
Medien berichteten. Kaum ein Monat vergeht in Pakistan, in dem nicht eine Bombe in einem Schrein explodiert oder dessen Wächter ermordet werden. Es sind im Vergleich zu den Vorjahren wenige spektakuläre Anschläge darunter, bei den meisten starben zwei, drei, allenfalls mal zehn Menschen. Bekennerschreiben sind die Ausnahme, der Krieg, der hier geführt wird, bleibt in der Regel unerklärt. Offenkundig ist nur, gegen wen er sich richtet, nicht gegen den Westen, nicht einmal gegen Staat und Regierung. Dieser Krieg richtet sich gegen das Herzstück der eigenen Kultur. Gerade die Alltäglichkeit der Gewalt scheint es zu sein, mit der die Menschen von den Schreinen ferngehalten werden sollen.
Der Staat bemüht sich, die Sufis zu schützen, indem er ihre Heiligtümer mit Soldaten, Absperrungen und Kontrollschleusen wie auf Flughäfen sichert. Zugleich schränkt er die mystische Praxis radikal ein. So dürfen die Sain-Brüder schon lange nicht mehr im Schrein von Schah Djamal selbst auftreten, sondern nur auf dem viel zu kleinen Friedhof nebenan, und selbst dort nur zwei Stunden die Woche. Immerhin, denke ich, als ich am nächsten Abend den Schrein von Madhu Lal Hussein betrete.
Das Grab der Liebenden
Schah Hussein war ein sufischer Heiliger, dessen Liebe zu seinem hinduistischen Schüler Madhu Lal die Grenzen der Konfessionen, Klassen und Konventionen sprengte. Als Zeichen ihrer Einheit nahm der Heilige den Namen des Geliebten an und nannte sich Madhu Lal Hussein. Ihr gemeinsames Grab wurde für Gläubige und Liebende beider Religionen zum Wallfahrtsort. Als ich Lahore vor zwölf Jahren zum ersten Mal besuchte, war der Schrein auch tagsüber mit Männer und Frauen gefüllt, mit Alten und Jungen, mit Bürgern und Malangs, und jeden Abend spielten mehrere Gruppen Qawwali, den von Chor, Harmonium und Trommeln unterlegten Gesang mystischer Liebesgedichte, den der verstorbene Nusrat Fateh Ali Khan auch im Westen berühmt gemacht hat. Diesmal komme ich bei Anbruch der Dunkelheit an, aber niemand scheint da zu sein, nicht die vielen Gläubigen, nicht die Musiker, kein Licht brennt, die Sicherheitsschleuse ist verlassen, das Tor verschlossen.
Hinter dem Zaun sehe ich einen jungen, schmalen Mann über den Hof gehen, den ich herbeirufe. Als er hört, daß ich aus einem anderen Land angereist bin und so gern noch am Grab der beiden Liebenden beten würde, läßt er mich eintreten. Nach dem Gebet frage ich ihn wegen der Stille, die mich bestürzt. Nach dem Anschlag auf Data Gandsch Bakhsch habe die Provinzregierung nicht nur die Absperrungen errichtet und Kontrollen eingeführt, sie habe auch die Musik verboten. Wenn aber niemand mehr an den Schreinen singe, blieben auch die meisten Gläubigen fern oder beschränkten ihren Besuch auf das Gebet. Seine Abende verbringe niemand mehr bei Madhu Lal und Schah Hussein.
– Muß man nicht froh sein, daß der Staat die Sufis wenigstens zu schützen versucht? frage ich.
– Ach was, antwortet der Wächter und verweist darauf, daß die Muslim League des ehemaligen Ministerpräsidenten Nawaz Scharif, die den Pundjab regiert, Saudi-Arabien nahestünde: DieSorge um die Sicherheit ist nur ein Vorwand, um die Blutbahn unserer Religion auszutrocknen.
Um mir einen Tee anzubieten, nimmt mich der junge Wächter mit in sein nahegelegenes Zimmer. In der Dunkelheit, die in den ärmeren Vierteln Lahores auch in den Häusern meist herrscht, weil der Strom dort abends besonders häufig ausfällt, setze ich mich auf die Decke, die nachts zum Schlafen ausgebreitet wird. Der Wächter holt Tee, Süßigkeiten und eine Taschenlampe herbei, bevor er zu erzählen beginnt: Er sei Musiker gewesen, Trommler in einer der berühmtesten Gruppen der Stadt, und früher jeden Abend aufgetreten. Sogar nach Indien sei ihre Gruppe eingeladen worden, zu einem Festival in Agra, berichtet er stolz und hält eine holzgerahmte Urkunde vor die Taschenlampe, die den Trommlern einen phantastischen Erfolg beim indischen Publikum bescheinigt. Er selbst habe noch Glück gehabt: Als die Musik am Schrein des Madhu Lal Hussein verboten wurde, habe er den Job als Wächter angeboten bekommen, so sei er den Liebenden wenigstens noch nah. Die übrigen Trommler hätten ihre bunten Gewänder abgelegt und verdienten ihr Geld als Handwerker oder Tagelöhner. So gehe es nicht nur ihnen, so gehe es den meisten Musikern Lahores, jedenfalls den religiösen Musikern. Manchmal spielten sie auf Hochzeiten oder Heiligenfesten, das sei aber auch schon
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