Ausnahmezustand
alles und reiche nicht zum Überleben. Der Wächter der beiden Liebenden schreibt mir einen Link auf, unter dem ich die Musik auf
Youtube
hören könne.
O Papa, beschütz mich
An den folgenden Abenden besuche ich die Heiligtümer Lahores, die für ihre Musikgruppen, Tänzer, wandernden Derwische, überhaupt für ihr buntes Volk berühmt waren. Am größten Schrein, Data Gandsch Bakhsch, wo mit Ali al-Hodschwiri einer der bedeutendsten Theoretiker des Sufismus begraben liegt, muß ich einen Parcours aus Gittern passieren und mich zusätzlich zur Sicherheitsschleuse noch viermal am Körper auf Waffen abtasten lassen,bevor ich in den Hof treten darf, der im Vergleich zu den früher üblichen Menschenansammlungen eines Freitagabends wie leergefegt wirkt. Spuren des Anschlags von 2010 sind nicht zu sehen, aber auch nirgends der Qawwal zu hören, den hier bis vor kurzem die besten Gruppen Pakistans spielten. Dabei hat kaum jemand das
Samaa
, das rituelle Hören von Musik zum Zwecke der Ekstase, so ausführlich beschrieben, analysiert und gepriesen wie im 11. Jahrhundert al-Hodschwiri. Nur sein Grab ist umringt von Gläubigen, die ins Zwiegespräch mit dem Heiligen versunken zu sein scheinen.
Am Schrein des Misri-Schah empfiehlt mir der Pir, ein ebenso großer wie kräftig gebauter Herr mit rotem Bart und roter Mütze, am kommenden Samstag nach dem Nachtgebet wiederzukommen, da beginne das Fest des Mir Hossein und werde auch Musik gespielt, egal, was die Polizei sage. Die Gläubigen küssen dem großgewachsenen, breitschultrigen Pir nicht die Hand, wie ich es aus anderen Ländern kenne, sondern schmiegen sich an seinen Körper, von dem besonderer Segen ausgehen muß. Erfreut über mein Interesse an der muslimischen Tradition, ruft er die anderen Ältesten herbei, um sich für ein gemeinsames Photo aufzustellen. Zum Abschied drückt er auch mich väterlich an seine Brust.
Vor dem Schrein der Bibi Pak Damnan fischen die wachhabenden Polizisten den Photoapparat aus meiner Tasche und überreichen ihn der Vorgesetzten, die hinter einem Tisch mit ihrem Handy spielt. Den müsse ich für die Dauer des Besuchs hier abgeben, blickt sie streng auf. Ich verspreche, keine Photos zu machen, lächle ich sie unschuldig an.
– Wirklich versprochen? fragt sie und gibt mir die Kamera zurück.
Ein paar Meter entfernt vom Schrein des Mianmir, in dem es ebenso still geworden ist, sitzt ein alter, sehr dürrer Mann im Schneidersitz auf einer billigen Decke und singt den Passanten und Händlern ein trauriges Lied. Auf dem Kopf trägt er eine schwarze Mütze, im Gesicht weiße Stoppeln, über dem langen Gewand eine Fleecejacke und darüber ein graues, zu großes Sakko. Er breitet die rechte Hand hinterm Ohr aus, während er singt, und führt die linke Hand klagend nach oben.
–O Papa, redet er den heiligen Mianmir im Lied an, o Papa, dein Fest ist zerstört, o Papa, nur du kennst meinen Schmerz. O Papa, in deinem Garten die Gärtner, sie sind alle neu. Aber was tun sie, o Papa?, die neuen Gärtner reißen alle Blumen aus. O Papa, nimm mich in deine Arme, o Papa, beschütz mich.
Im Villenviertel
Schon um zu erfahren, was man in ihren Kreisen darunter versteht, habe ich das Angebot der Dame gern angenommen, sie zu einer Geselligkeit mit Sufis zu begleiten. Sie ist um die Vierzig, schätze ich, trägt einen eleganten Sari und die langen Haare selbstverständlich offen, perfektes Englisch, selbstsicherer Umgangston, eine Erscheinung so attraktiv und weltläufig, daß ich sie mir eher auf einer Vernissage oder in einem Luxushotel vorstellen könnte als unter wandernden Derwischen. Als wir in ihre Geländelimousine einsteigen, bin ich gespannt, wohin uns der Fahrer bringt, der mit seinem langen, weißen Bart und dem knielangen Gewand schon eher dem Bild eines Sufis entspricht.
Die Dame hat nicht in Pakistan auf den mystischen Pfad gefunden, sondern in New York. Dort, auf dem Workshop eines türkisch-zypriotischen Meisters, eines
Pirs
, entdeckte sie die Weisheit ihrer eigenen, islamischen Religion und war so ergriffen, daß sie dem Pir nach Zypern folgte und bald schon als Novizin in seinen Orden eintrat. Nachdem sie die Grundlagen des Sufismus erlernt hatte, verwies der Pir sie an einen seiner pakistanischen Schüler, der sie seither auf dem Pfad anleitet. Ein- oder zweimal im Jahr besucht der Pir auch selbst Pakistan und versammelt die Mitglieder seines Ordens um sich. Viele seien es, sagt die Dame, viel mehr als ich mir vorstellen könne,
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