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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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er hört die Schläge der Trommeln nicht, sondern spürt sie als Schwingungen im Körper, spricht nicht, sondern bringt aus seiner Kehle nur einzelne Laute und eben die Anrufungen des Heiligen
Lal Schahbaz Qalander
hervor, der im 13. Jahrhundert lebte: «o berauschter Qalander».
Dschule Lal
antworten im Chor die Zuhörer: «roter Tänzer».
Schah Dschamal
ruft Gonga einen weiteren Kosenamen des Heiligen, «König der Schönheit», worauf aus allen übrigen Kehlen wieder
Dschule Lal
erklingt. In den ansteigenden Zwiegesang hinein schreien einige vor Verzückung laut auf. Ein Malang bringt aus einem kleinen Horn mächtige Töne hervor.
    Später beruhigt sich die Musik wieder und fordert Gonga mit Armbewegungen die Zuhörer in den vorderen Reihen auf, sich nach hinten zu stellen, was das Gedränge zwischen den Gräbern noch einmal steigert. Auf den frei gewordenen Platz treten nach und nach die Tänzer in roten, weißen, bunten oder Flickenkleidern, ihre Gesichter gezeichnet von Askese und Versenkung, von Erfahrungen in einer anderen als der diesseitigen Welt. Jeder hat seinen eigenen Weg, sich der Musik bis zur Ekstase zu überlassen, schüttelt wild den Kopf oder dreht sich rasend im Kreis, stampft auf den Boden oder springt in die Luft – auf einem Hardrockkonzert geht es geordnet zu im Vergleich. Aber was auf den ersten Blick wild anmutet, setzt lange Übung voraus, ein schon artistisches Geschick. Einer zum Beispiel, der Kleinste, kreist mit ausgestreckten Armen und langen wehenden Haaren so unglaublich schnell um die eigene Achse, daß mir schon beim Zuschauen schwindelig wird. Wie macht er das nur mit den Füßen? frage ich mich, wie ich anfangs nach dem Rhythmus gefragt habe. Einige Male wollen sich junge Leute unter die Tänzer mischen. Sofort werden sie an die Seite gedrängt, zunächst väterlich freundlich,aber wenn nötig streng und bestimmt. Das hier ist kein Vergnügen, sondern Gottesdienst, den mitgestalten nur darf, wer die Handlungen beherrscht, nicht nur die Rhythmen und Schrittfolgen, auch die Gebete und den Hergang der inneren Zustände.
Krieg gegen sich selbst
    Pakistan, das heute mehr für seine extremistischen Bewegungen bekannt ist, für Talibanisierung, Terrorismus und Diskriminierung, ausgerechnet Pakistan ist eines der wenigen Länder der islamischen Welt, in denen die Mystik noch die vorherrschende Form der religiösen Praxis darstellt. Siebzig bis achtzig Prozent aller Pakistanis, so ist in der Fachliteratur zu lesen, fühlen sich im weitesten Sinne der Schreinkultur zugehörig, die vom Sufismus durchdrungen ist, besuchen also, wenn sie nicht selbst einem Orden angehören, die Gräber mystischer Heiliger und Dichter, versorgen wandernde Derwische, folgen einem Pir, also einem sufischen Führer, lieben die vielfältigen Spielarten der religiösen Musik oder nehmen teil an den rauschhaften Ritualen. Die Mystik als eine individualistische, auf das innere Erleben des Einzelnen gerichtete Frömmigkeit, die Gewalt ablehnt, Toleranz vorlebt und unter allen Eigenschaften Gottes Seine Barmherzigkeit und Schönheit betont, bildete unter Muslimen immer schon den Gegenpol zu der Buchstabenfrömmigkeit der Rechtsgelehrten und den Gedankentürmen der Scholastiker.
    Bewohnten die Sufis innerhalb des Islams lange Zeit weitgehend ungestört eine riesige Parallelwelt, wurden sie im Verlaufe des zwanzigsten Jahrhunderts zur Zielscheibe der neuen fundamentalistischen Bewegungen, von denen sie nicht mehr nur abschätzig beäugt wurden wie von der Orthodoxie, sondern in Worten und zuletzt immer häufiger in Taten auch bekämpft. In Saudi-Arabien etwa haben die Wahhabiten schon vor Jahrzehnten konsequent alle Schreine, sogar die Schreine von Gefährten und Verwandten des Propheten, zerstört, um die mystischen Kulte zu unterbinden, undin einer Theokratie wie der Islamischen Republik Iran sind die Sufis gerade in den Jahren unter Präsident Ahmadinedschad einer massiven Verfolgung ausgesetzt, werden Derwischklöster dem Erdboden gleichgemacht, die Führer der mystischen Orden verhaftet, gefoltert oder mit kurzgeschorenen Haaren durch die Straßen getrieben.
    Auch in Pakistan sind die Mystiker ins Visier der Fundamentalisten geraten. In den letzten Jahren hat es zahlreiche Angriffe auf Schreine gegeben, so im Juni 2010 auf das größte Heiligtum Pakistans, den Schrein des Data Gandsch Bakhsch im Zentrum Lahores, wo 45 Menschen starben. Aber das war nur der blutigste Anschlag, über den auch die internationalen

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