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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Ökonomie und mehr Einfluß auf die Politik als die afghanische Regierung. Die Gebernationen und Finanzinstitutionen rechtfertigen ihre Machtfülle damit, daß sie der Korruption und Mißwirtschaft Tür und Tor öffneten, wenn sie dieMilliarden afghanischen Institutionen überließen. Aber die Weltbank selbst widerspricht in einem Ende 2005 veröffentlichten Bericht dieser Logik: «Die Erfahrung lehrt, daß es effizienter und kostengünstiger ist, die Hilfe über staatliche Stellen zu kanalisieren», wird der Vertreter der Weltbank in Afghanistan, Alistair McKechnile, zitiert. Die Korruptionsanfälligkeit westlicher Firmen sei deshalb oft höher, weil sie nur vorübergehend im Land blieben und ihre Tätigkeit vor Ort praktisch keiner Aufsicht und keiner Gerichtsbarkeit unterliege. Die schwerwiegendste Sanktion ist noch, per Helikopter nach Kabul und von dort ins Heimatland geflogen zu werden, wie es einem Mitarbeiter der Sicherheitsfirma USPI geschah, der im Streit einen afghanischen Übersetzer erschossen hatte. Der Angestellte einer anderen Sicherheitsfirma war so frei, einen afghanischen Minister in der Öffentlichkeit zu ohrfeigen.
Amerikanisches Hauptquartier
    Als der Schweizer Photograph Daniel Schwartz, der mich auf der Reise begleitet, bei der Fahrt rund um Bagram zum ersten Mal aussteigen darf, um in Anwesenheit von vier Presseoffizieren Photos von der Wüste zu machen, in der sich das Schicksal der Weltsicherheit im 21. Jahrhundert entscheiden wird, löst er eine Alarmsirene aus. Wie Gott aus dem Himmel weist eine Stimme den Fahrer an, den Motor auszuschalten, doch statt eines Engel steht urplötzlich ein Wachmann mit zwei Maschinengewehren vor dem Panzerwagen, als bestünde Fluchtgefahr. Er sei Bassist, teilt er freundlich mit, mehr Jazz als Klassik, und froh, daß nach der Rückkehr sein Musikstudium beginne. Anders als die amerikanische Presseoffizierin, die allen Ernstes ihre Unterlagen nach dem Namen durchwühlte, hat er auch schon von Alexander dem Großen gehört. Daß der Eroberer bis nach Afghanistan vordrang, erstaunt den Wachmann allerdings sehr:
    – Alexander der Große war in Afghanistan?
    –Ja, informiert Daniel ihn, und zwar hatte er sein Hauptquartier genau hier, wo heute Bagram liegt.
    – Und? fragt der Wachmann.
    – Er wurde vernichtend geschlagen – wie übrigens alle Eroberer nach ihm.
    Die Presseoffizierin, die den Namen Alexanders des Großen nicht kannte, möchte wissen, warum Daniel die Alarmsirene ausgelöst hat, man dürfe sich doch wohl noch die Landschaft anschauen.
    – Keine Ahnung, antwortet der Wachmann knapp, der sich lieber mit Daniel über die Antike unterhält.
    Eine halbe Stunde später fährt ein weiterer Panzerwagen vor. Der schwarze Offizier, der aussteigt, hält einen halben Cookie in der Hand, kein Maschinengewehr. Andere rauchten Zigaretten, er esse Cookies, erklärt er, als er den dritten Cookie zu knabbern beginnt. Nein, den Grund für den Alarm kenne er auch nicht, empfehle aber jedem, die Finger von Zigaretten zu lassen.
    Eine weitere Stunde später fährt in der Wüste, in der sich das Schicksal der Weltsicherheit im 21. Jahrhundert entscheiden wird, ein dritter Panzerwagen vor. Die hochgewachsene Blonde, die aussteigt, trägt dunkle Sonnenbrille, Jeans, Turnschuhe, weißes, bis über den Brustansatz offenes Hemd, Lederjacke. Breitbeinig stellt sie sich wie vor unartigen Kindern auf, Hände in die Hüften. Na also, denke ich: doch noch ein Rambo. Der Ton schlägt um.
    – Welcher von denen ist der Kerl? schnauzt sie ihre Landsleute an.
    Wie Petzer in der Schule zeigen sie auf Daniel, dem die Blonde dreißig Sekunden Zeit gewährt, den Film auszuhändigen.
    – Es ist der falsche Augenblick für eine Diskussion, murmelt der deutsche Presseoffizier in seiner Muttersprache.
    Bevor wir die Rundfahrt fortsetzen dürfen, werden die Papiere aller Besucher überprüft und ihre Namen notiert, auch die der vier Presseoffiziere und der sechs britischen Bewacher, die aus dem Hauptquartier nach Bagram mitgekommen sind, wo dreitausend amerikanische Soldaten, fünftausend Zivilisten und zweitausend afghanische Tagelöhner wie in einer Kleinstadt leben, die auch im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten stehen könnte, aber genausogutauf dem Balkan, in Afrika oder im Irak: eine Shoppingmall mit allen Segnungen des amerikanischen Marktes, Post, Bank, Sportstudio, Friseure, Beauty und Spa Shop, Volkshochschulkurse, ein Fachgeschäft für Orientteppiche, die

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