Ausnahmezustand
ebenfalls amerikanische Berater tätig sind. Das Studium war gut, sagt Farid, sie hätten viel von den Beratern gelernt.
– Und das Parlament? möchte ich wissen: Wird dort ernsthaft debattiert, oder erweckt es nur den Anschein von Demokratie?
Farid denkt nach. Nein, sagt er dann, es werde schon ernsthaft debattiert, das sei nicht nur Show. Und es gebe neben den korrupten Abgeordneten auch viele, die es ehrlich meinen und sich für Afghanistan aufzehren.
– Das heißt, du bist insgesamt schon glücklich, daß die Taliban weg sind?
Farid schaut mich an und hält die flache Hand unter die Brust. Ich verstehe nicht.
– So lang war mein Bart, lacht Farid, so lang – kannst du dir das vorstellen?
Ich schaue in die Runde, wo inzwischen die Verwandten versammelt sind, der Bruder, der Cousin, zwei Neffen. Wie auf ein Zeichen halten sich alle die Hand unter die Brust und kichern mit Farid. Gewiß habe ich von den Bärten gehört, die unter den Taliban jeder Mann brustlang tragen mußte, aber wenn man in eine Runde freundlicher, glattrasierter Herren blickt, wird einem erstklar, was das bedeutet. Im Dämmerlicht der Petroleumlampe sehen sie mit ihren Schals, Mänteln und Mützen, die man im Kabuler Herbst auch zu Hause anbehält, beinah aus wie eine Gruppe von Bergsteigern, die sich nach anstrengendem Aufstieg nachts in der Almhütte versammeln. Dann zählt Farid die Strafen auf, die die Taliban verhängen: die Anzahl der Gefängnistage fürs Musikhören, die Anzahl der Peitschenhiebe für den fehlenden Bart, die Anzahl der Hinrichtungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr.
Später frage ich Farid nach dem Loch im Schaufenster, das notdürftig mit Plastik überklebt ist. Vor ein paar Tagen ist jemand eingebrochen, erklärt er. Unter den Taliban konnte er nachts den Laden offenstehen lassen, da wäre nie etwas gestohlen worden. Jetzt gibt es nicht einmal jemanden, bei dem er eine Anzeige erstatten könnte.
– Und die Polizei?
Da fängt die Runde wieder an zu kichern.
GRENZEN DES BERICHTBAREN
Afghanistan II, September 2011
Friedhof I
In den frühen Morgenstunden des 11. September 2011 besuche ich den Friedhof von Kabul, der ein erfrischender Ort ist, wenn man aus dem staubigen Tumult der Stadt kommt mit ihren stets überfüllten Straßen. In seinen Ausmaßen fast unübersehbar, zieht sich das Gelände einen Berg am Rande der Stadt hoch und liegt damit oberhalb der Abgaswolke. Bäume spenden hier und dort ihren Schatten, man glaubt es kaum, ist doch der Garten, der Kabul einmal war, nur mehr auf jahrzehntealten Photos zu sehen. Noch sonderbarer ist die Ruhe, weit und breit kein Auto zu hören, nur zwei Esel, die in der Ferne schreien. Ich befürchte schon, keine Menschenseele anzutreffen, die ich nach den Opfern des zehn- und des schon mehr als dreißigjährigen Krieges befragen könnte, als mein Blick auf die erste, dann die zweite und bald viele Planen fällt, die zwischen den Zäunen der Familiengräber gespannt sind. Hier und dort wohnen Familien darin, stellt sich heraus; die meisten Bewohner des Friedhofs von Kabul aber sind alte Männer, Greise darunter, offenbar allein.
Mit einem komme ich ins Gespräch, der sich sein Heim sorgfältig eingerichtet hat, auf dem Boden Teppiche, auf einem Brett Töpfe, Kannen und ein Radiorekorder. Hühner laufen vor dem Zelt herum, und ein geschorenes Schaf schmiegt sich an das Bein von Nur Agha, wie ihn früher alle genannt hätten – Leuchtender Herr. Ich schätze ihn auf sechzig, fünfundsechzig Jahre höchstens, nur weiße Strähnen im Bart, keine Furchen auf der hohen Stirn, die schwarzen Haare schulterlang. Tatsächlich sei er 81 Jahre alt, schätzt Nur Agha und lächelt verschmitzt.
– Was haben Sie gemacht, daß Sie so jung geblieben sind? möchte ich wissen.
– Ich habe aufgepaßt, erklärt Nur Agha und zeigt auf seine linke Brust, daß der Kummer keine Knoten in meinem Herzen knüpft.Dann antwortet er auf meine Frage nach seinem Anteil an den schätzungsweise drei Millionen Toten, die der Krieg gefordert hat, drei von dreißig Millionen Afghanen: Ich habe sieben Märtyrer gegeben.
Als der Krieg vor zwanzig Jahren in die Straßen Kabuls schwappte, Kampf um jedes Haus und von den Bergen Raketen, fuhr er nach Jalalabad voraus, um der Familie eine Zuflucht zu besorgen. Nach Kabul zurückgekehrt, um die Familie abzuholen, hatte eine Bombe sein Haus zerstört, die Frau, alle fünf Kinder und eine Schwester tot. Zwei Wochen dauerte es, bis alle
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