Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
einiger Zeit noch regelrechte Kontaktbörsen waren, um Taliban kennenzulernen. Und das Risiko, mit einem Trupp von Kriegern übers Gebirge ins südliche Afghanistan zu marschieren, ist derzeit auch Kollegen zu hoch, die mehr Mut haben als ich.
Nach Norden
    Als die einzig sichere Verkehrsader des Landes gilt die Verbindung zwischen Kabul und Mazar-e Sharif, knapp fünfhundert Kilometer lang, weitgehend über malerische Berge und durch sanftgrüne Täler. Anfangs neu ausgebaut, geht die Straße bald schon in eine staubige Piste über, auf welcher der Teer zehn Jahre nach Beginn des Wiederaufbaus, der auch Milliarden für den Ausbau des Straßennetzes vorsah, mal größere, mal kleinere Inseln bildet. Vollständig abgetragen ist der Belag in den zahlreichen Tunneln, dienoch aus der Regierungszeit von Mohammad Daud Khan in den siebziger Jahren stammen. Weil auch die Beleuchtung fehlt, die es einmal gegeben haben muß, fährt man in eine schwarze Staubwolke hinein, in der blitzartig die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge aufleuchten.
    Mein Fahrer hat zu allem eine klare, eine einzige Meinung: Schuld sind immer die Amerikaner.
    – Sind Ihnen denn die Taliban lieber? frage ich.
    – Die Taliban sind doch die Sklaven Amerikas, erwidert mein Fahrer.
    – Aber wieso kämpfen sie dann gegen Amerika?
    – Hat die CIA etwa nicht die Taliban ausgebildet?
    – Seitdem gab es die Anschläge vom 11. September.
    – Und wer unterstützt dann Ihrer Meinung nach heute die Taliban?
    – Pakistan, sagt man.
    – Wessen Vasall ist Pakistan?
    – Die pakistanische Regierung ist von Amerika abhängig, gebe ich zu.
    – Da haben wir’s! triumphiert mein Fahrer.
    Kaum eines der Dörfer an den Berghängen links und rechts der Straße verfügt über Strom und fließend Wasser. Wohlgemerkt, das ist keine entlegene Wildnis, sondern die meistbefahrene Region des Landes. Nach Schulen fragt man hier vergeblich. Dafür erhält man eine Antwort auf die Frage, was aus Nutzfahrzeugen wird, die in Deutschland nicht mehr gefahren werden: ob der Bus von Zipfel Reisen oder der Lastwagen der Firma Matschke aus Bochum, ob die Philipps-Universität-Marburg oder die Spedition Willy Betz – alle sind sie da. Der gesamte Fuhrpark des afghanischen Transportwesens scheint gebraucht in Deutschland eingekauft worden zu sein.
Mazar-e Sharif
    Anders als Kabul war Mazar-e Sharif nie eine Schönheit, eilig gebaute Zementbauten an Straßen, die wie mit dem Lineal gezogen sind, als einzige Attraktion der Schrein, in dem angeblich Imam Ali ruht, der vierte Kalif. Aber der Basar birst vor Waren aus Zentralasien, Iran, der Türkei und China, die Straßen sind sauber, Ampeln regeln den Verkehr, wo in der Hauptstadt noch weitgehend freie Fahrt herrscht und an den Kreuzungen also Stillstand. Es ist Donnerstag, später Nachmittag, halb Mazar-e Sharif scheint zum Schrein zu pilgern. Obwohl der Kult um die Toten den puritanischen Taliban ein Dorn im Auge ist und ein einziger Attentäter Dutzende, wenn nicht Hunderte Menschen mit sich in den Tod risse, gibt es vor keinem der vier Eingänge, die auf das parkähnliche Gelände mit der blauen Moschee führen, Kontrollen.
    Hinter einer angelehnten Tür haben sich Sufis dichtgedrängt auf Teppichen versammelt, islamische Mystiker. Nach der Predigt ihres Führers, eines weißbärtigen Greises, der von irdischer und himmlischer Liebe spricht, hebt der Sänger zum
zikr
an, der musikalischen Versenkung in Gott. Seinen ekstatischen Gesang untermalen die anderen Sufis mit ihrem Atem, den sie im Chor rhythmisch hauchen. Allmählich geraten die Köpfe in Bewegung, dann kreisen die Oberkörper elliptisch. Ein zweiter, jüngerer Sänger fällt ein, der Rhythmus beschleunigt sich, der Gesang wird lauter. Nun erheben sich die vielleicht dreißig Sufis, die Oberkörper wirbeln verzückt. Das Gebiet des heutigen Afghanistan ist eines der Quellgebiete der islamischen Mystik; viele Heilige sind hier begraben und einige der größten Dichter des Sufismus. Man wußte, daß auch während des Krieges und selbst unter den Taliban, die alle musikalischen Riten zur Straftat erklärten, mystische Orden im Geheimen existiert haben mußten. Aber daß sich die Sufis heute wieder an öffentlichen Orten zum
zikr
versammeln, vor dem Abendgebet am Schrein des Imam Ali, ohne Kontrolle bei angelehnter Tür, widerlegt mehr als alle Bulletins der NATO die Meinung, nichts sei gut in Afghanistan.
Der beste Ort am Platz
    Die hell erleuchtete Moschee steht neben

Weitere Kostenlose Bücher