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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Jahren bereitete.
    Es klingt nicht pathetisch, es klingt wie eine simple Feststellung. Aber die Welt habe Schah Massoud wegen einiger Öl- und Gasleitungen alleingelassen.
    Wo die Gefährten Schah Massouds heute seien, frage ich. Seien Politiker geworden, sagen die Männer, sehr geschäftstüchtige Politiker, die Ministerien und Paläste besäßen, aber es in zehn Jahren nicht geschafft hätten, Schah Massoud ein anständiges Grabmal zu bauen. Finanziert worden sei die Gedenkstätte von einer Stiftung und Schah Massouds eigener Familie. Wie könne es auch anders sein: So oft schon in der Geschichte hätten sich die Gefährten großer Führer als sehr kleine Geister erwiesen; Charisma und Herzensgröße, Weitsicht und Demut seien eben leider nicht ansteckend. Niemand in Afghanistan sei den Weg Schah Massouds gegangen.
    –Wie sehen Sie die Zukunft Afghanistans? frage ich.
    – Schlimmstenfalls legen wir in den Eingang des Tals wieder Sprengstoff, antwortet einer.
In den Süden
    Kandahar markiert den äußersten Rand des Gebietes, das für die unabhängige Berichterstattung zugänglich ist. Man kann nach Kandahar fliegen, man kann in einer der beiden hochgesicherten Pensionen übernachten und mit dem Auto von Interview zu Interview fahren. Aber schlendern sollte man als Hellhäutiger nicht gerade durch die Basare, raten einheimische Freunde. Entführt bringe ein Ausländer viel Geld ein, tot einen weiteren Punkt für die Propaganda. Selbst die Einheimischen achten darauf, wo sie hingehen, mit wem und vor allem zu welcher Uhrzeit. Spätestens um neun schlössen die letzten Restaurants und beeilten sich die Taxifahrer, nach Hause zu kommen.
    Weil es keine andere Möglichkeit gibt, vom Norden in den Süden des Landes zu reisen, kehre ich also nach Kabul zurück, um das Flugzeug zu nehmen. Nur ein paar Tage fort, ist das Gefühl der Sicherheit schon dahin, das die Bewohner so sorgsam gehegt hatten. Die Taliban haben am Mittag an verschiedenen Orten gleichzeitig mehrere Sprengsätze gezündet und an der Grenze zum diplomatischen Viertel den Rohbau eins Hochhauses besetzt. Noch am Abend hält die Stadt den Atem an, weil die Angreifer unaufhörlich aus dem Hochhaus um sich schießen. Die Straßen sind auch drei Kilometer entfernt vom Schauplatz wie leergefegt, die Preise fürs Taxi haben sich verfünffacht. Es ist nicht die Anzahl und schon gar nicht der Rang oder die Herkunft der Toten, die die Taliban morgen als Erfolg reklamieren werden, unter den Opfern kein Minister, kein Ausländer, nicht einmal eine Mauer
vor
den Mauern gesprengt. Es ist das Mißtrauen. Jeder in Kabul hat etwas anderes gehört, den dürren Communiqués glaubt niemand, die im Staatsfernsehen verlesen werden. Es ist der Eindruck, wehrlos den Angriffenausgesetzt zu sein, wenn der Staat nicht einmal sich selbst zu schützen vermag. Wie ist es möglich, so fragt sich jeder, daß die Taliban mit kiloweise Sprengstoff, Dutzenden Gewehren und offenbar einer ganzen Wagenladung Munition sämtliche Checkpoints passieren und sich mir nichts dir nichts nahe der amerikanischen Botschaft in Stellung bringen können, wer hat ihnen geholfen?
    Auf dem Fernseher der schmucklosen Abflughalle indisches MTV, auf dem Minirock der Sängerin und auf ihren Oberschenkeln ein milchiger Fleck wie auf dem Gesicht eines anonymen Zeugen in einer Fernsehdokumentation. Der Milchfleck kreist, er springt auf ein Auto, wird von acht Männern in die Luft geworfen. Sieh her, Zensur! könnte man abwinken oder zehn Jahre nach dem Sturz der Taliban sich über die freizügigen Tanzvideos im afghanischen Staatsfernsehen wundern, denen kein Reisender nach Kandahar Beachtung schenkt, weder die jungen Leute, die Jeans, T-Shirts und auf den Ohren dicke Kopfhörer tragen, noch die Alten in ihren Stammesgewändern, brustlang ihr Bart, weder die Frauen unter der Burka noch die beiden einheimischen Entwicklungshelferinnen in Funktionshose und Trekkingschuhen. Daß all diese Menschen demselben Land angehören und derselben Zeit! Wahrscheinlich ist auch die Zukunft in Afghanistan nur im Plural zu denken, die Zukunft des Nordens, die Zukunft des Südens, Westens, Ostens, die Zukunft der Städte und der ländlichen Gebiete. Jedenfalls mit den Möglichkeiten, die der Zentralregierung zur Verfügung stehen, und den Mitteln, die die internationale Gemeinschaft noch zu investieren bereit ist, werden große, größer werdende Teile des Landes bis auf weiteres unregierbar bleiben. Länger als der Dreißigjährige

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