Ausnahmezustand
Teppich zaubert: Aber dann habe ich gemerkt, daß es gar nicht hilft, gesund zu sein, wenn nicht auch Frieden herrscht: Wozu will man denn leben im Krieg?
In den Analysen, die Chaos, Krieg und Rückfall an die Wand malen, wird zu wenig bedacht, daß die Menschen in Afghanistan ein Wort mitzureden haben. Als die Taliban 1996 vom Süden aus das Land eroberten, war es im Bürgerkrieg versunken. Auch in den Regionen, die nicht von Paschtunen bewohnt sind, überwog zunächst die Erleichterung, daß überhaupt jemand für Ordnung sorgt. Heute würden sich jedenfalls im Norden die Menschen gegen die Taliban auflehnen, da sie ein wenig Frieden gekostet haben. Nahe Kunduz wurde eine Mädchenschule geschlossen aufgrund des Drucks der Taliban, war weltweit zu lesen. Niemand auf der Welt las, daß die Schule schon bald wieder geöffnet wurde aufgrund des Drucks der Eltern.
– Wir haben nicht genug Räume! klagt die Konrektorin einer Dorfschule, eine kraftvolle Usbekin mit Goldzähnen.
– Vorsicht, tuschelt ihr Vorgesetzter, der Herr schreibt für eine ausländische Zeitung, wir sollten uns zufrieden zeigen.
– Ach was, ruft die Konrektorin und führt den Besucher in die überfüllten Klassen, in denen in drei Schichten von morgens bis abends gelernt wird, links die Mädchen, rechts die Jungen. Sie sind die erste Generation, die keinen Krieg erlebt hat.
–Was wollt ihr einmal werden? frage ich die sechs- bis zehnjährigen Kinder.
Es dauert ein wenig, bis sich jemand traut, aber als das erste Mädchen einmal angefangen hat zu reden, kennen auch ihre Mitschüler kein Halten. Seltsam nur, daß alle den gleichen Berufswunsch haben: Arzt.
– Sie wollen heilen, erklärt die Konrektorin.
– Will denn niemand etwas anderes werden? möchte ich von den Kindern wissen und höre nach einigen Sekunden der Stille ein Mädchen in der letzten Reihe etwas tuscheln.
– Wie bitte? fragt die Konrektorin.
– Ich werde Pilotin, erklärt das Mädchen mit fester Stimme.
Im Panjschirtal
Als solle er auch als Toter auf sein Volk achtgeben, liegt das Grab von Schah Massoud auf einem Bergvorsprung, der von drei Seiten die herrlichsten Blicke auf das Panjschirtal erlaubt, oben die kahlen, steilen Gipfel, unten der weißsprudelnde Fluß und die hellgrünen Bäume und Wiesen, wie hineingesprenkelt die Lehmdörfer, deren kräftiges Braun die Farbe der Berge spiegelt. Ein beständiger Strom von Menschen tritt an den schlichten schwarzen Stein, der von Sand bedeckt ist, darauf eine Glasscheibe mit dem Namen. Sie beten, sie machen Photos, legen Blumen ab, einzelne rezitieren den Koran. Im kollektiven Gedächtnis der Afghanen ist nicht 9/11 als der Tag eingeschrieben, der die Welt veränderte, sondern der 9. September 2001, als Schah Massoud von zwei Selbstmordattentätern in die Luft gesprengt wurde. Heute weiß man, daß die beiden Attentäter, die sich als belgische Journalisten ausgaben, dem Netzwerk al-Qaida angehörten und der Mord die Anschläge in den Vereinigten Staaten vorbereitete. Vor dem erwarteten Gegenangriff sollte erst der letzte Gegner in Afghanistan aus dem Weg geräumt und die Herrschaft der Taliban auf das ganze Land ausgedehnt werden.
Die Nacht verbringe ich bei ehemaligen Mudschahedin, die für Schah Massoud in den besten und den schlechtesten Tagen kämpften, kräftige, bärtige Männer mit schwarz-weißen Tüchern um den Hals. Strom gibt es in dem Bergdorf nicht, Wasserleitungen auch nicht, aber Lagerfeuer, Quellwasser und als einzigen Luxus ein batteriebetriebenes Radio. Die Hänge sind so fruchtbar, daß sich die Menschen selbst ernähren können – das hat immer für die Unabhängigkeit des Panjschirtals gesorgt, dessen schmalen Zugang ihr Führer in den schlimmsten Tagen mit Sprengstoff versperrte.
– Wenn nur ein Mensch auf Erden, dann wußte er, was es bedeutet, wenn Afghanistan in die Hände der Taliban fällt, was es bedeutet für die Welt.
Habe Schah Massoud denn nicht die Welt vor dem Terror von Al-Qaida gewarnt? Nicht einmal um Unterstützung habe er gebeten, nur verlangt, daß Pakistan die Taliban nicht weiter mit Waffen und Geld versorgt. Aber niemand habe ihn gehört, nicht die Vereinigten Staaten, nicht Europa, nicht Iran, niemand habe sich Ende der neunziger Jahre überhaupt für Afghanistan interessiert, außer den multinationalen Energiekonzernen.
– Dieser Mann hat die Berliner Mauer gesprengt, spielt einer der Männer auf die Niederlage an, die Schah Massoud der Sowjetunion in den achtziger
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