Ausnahmezustand
dem Alkoholgeschäft, aus dem man sich den Schnaps mit ins gegenüberliegende Restaurant nehmen kann, weil es keinen ausschenkt. Serviert wird auf Teppichen, die auf Holzgestellen ausliegen. Das ist keine Spelunke hier, sondern der beste Ort am Platz mit gut ausgestattetem Spielplatz, Familienbereich und zwei Hochzeitssälen, groß genug für tausend, zweitausend Gäste und an den Wochenenden immer voll; es ist vielleicht nicht die Mitte der Gesellschaft, aber doch deren oberes Fünftel. Die Vorstellung, daß die Taliban zurückkehren und ihre strengen paschtunischen Sitten den Tadschiken, Usbeken, Hasaras und anderen Völkern des Nordens noch einmal aufzwingen könnten, halten die Männer für abwegig, die auf dem Nebenteppich sitzen. Selbstverständlich hake ich nach und höre von der Willkür in den Ämtern, dem obszönen Reichtum der ehemaligen
warlords
und heutigen Geschäftsmänner, den leeren Versprechen der Regierung, den immer noch gewaltigen Lücken in der Infrastruktur, etwa der mangelnden Versorgung mit Ärzten oder sauberem Trinkwasser. Aber zurück? Ich frage, ob die ausländischen Truppen Afghanistan 2014 verlassen sollen.
– Auf jeden Fall! ist sich die Runde auf dem Nebenteppich einig.
– Aber dann müssen Sie sich auf Ihre eigene Armee verlassen.
– Die ausländischen Truppen müssen ja nicht unbedingt pünktlich abziehen.
Über die Dörfer
Ich fahre westlich aus der Stadt hinaus, um so weit zu gelangen, wie es die Sicherheit erlaubt. Nach etwa zwanzig Minuten passiert der Wagen die «Kriegsfestung»,
Qal-e Jangi
, in welcher der gefürchtete General Dostum ein Gemetzel veranstaltete, nachdem gefangene Taliban einen Aufstand versucht hatten. Zweihundertdreißig Häftlinge starben, die übrigen wurden unter den Augender CIA in Lastwagen-Container zusammengepfercht, zweihundertfünfzig oder mehr in jedem der dreißig Container, die Knie der Gefangenen gegen ihre Brust gedrückt und teilweise übereinander, Luft nur aus Einschußlöchern. Lediglich eine Handvoll Taliban in jedem Container überlebte die Fahrt nach Schibergan, Dostums Heimatort. Alle anderen wurden hinaus in die Wüste Dascht-e Leili gebracht und in Massengräbern verscharrt. Es ist auch eine solche Vergangenheit, die heute den Ausgleich so schwer macht; auf beiden Seiten der Front stehen Menschen, die keinen Grund haben, ihrem Gegner jemals zu vertrauen, wenn sie nicht immer noch auf Rache sinnen.
Der Fahrer biegt von der geteerten Straße ab. In einem Dorf namens Dehbadi kommen uns zwei deutsche Panzerwagen entgegen, die einzigen ausländischen Truppen, die ich auf der Fahrt über die Dörfer rund um Mazar-e Sharif sehen werde. In den sieben von vierunddreißig Provinzen, in denen die sogenannte Sicherheitsverantwortung an die afghanische Armee übergegangen ist, soll auch optisch demonstriert werden, daß der Abzug möglich ist. Keiner der Menschen am Straßenrand scheint den Deutschen Beachtung zu schenken, die aus kleinen Fenstern ebenso reglos blicken.
Ich frage die Männer verschiedenen Alters, die in einem Hauseingang stehen, was sie von den Soldaten halten, die gerade vorübergefahren sind. Höfliche Leute, die Deutschen, sagt einer, aber keine Krieger, führen immer nur in ihren Panzerwagen herum und könnten vor Schreck kaum atmen, wenn sie mal aussteigen müßten. Nicht schlimm, sagt ein anderer, der Krieg sei schließlich vorbei. Ob denn jetzt schon Frieden herrsche, frage ich verwundert. Ja, seufzen alle auf, das ist jetzt Frieden. Daß die ausländischen Truppen das Land verlassen wollen, finden die Männer deshalb in Ordnung.
– Vielleicht sind sie ja auch müde von uns, murmelt einer verständnisvoll.
– Und die Taliban?
– Als sie das erste Mal kamen, kannten wir sie nicht, sie waren janicht von hier. Aber jetzt wissen wir, daß ihr Geschäft das Morden ist und den Leuten Angst einzujagen. Sie werden es nicht wagen, zurückzukehren.
Anders als der Irak, der unter Saddam Hussein zwar eine brutale Diktatur, aber zugleich ein funktionierender Staat war, kannten die Afghanen vor dem Einmarsch des Westens kaum etwas anderes als Unfreiheit, bittere Armut, Krieg. Frei sind sie trotz Wahlen immer noch nicht, wohlhabend ebensowenig – aber dankbar sind die Menschen in Dehbadi schon, wenn sie nun wenigstens in Sicherheit leben, dankbar auch den ausländischen Soldaten.
– Früher dachte ich, Gesundheit sei das Wichtigste, erzählt ein pensionierter Lehrer, der in Sekunden Tee, Gebäck und Nüsse auf seinen
Weitere Kostenlose Bücher