Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Krieg dauerte es auch in Europa, bis der Frieden Gestalt annahm. Sind auf dem Video mehrere Tänzerinnen gleichzeitig zu sehen, gerät die Beachtung der islamischen Sittlichkeitsnormen vollends zur Groteske; dann sind lauter bewegliche Flecken zu sehen, je nach Schnitt auch ein milchiger Streifen, der die Hälfte – nein, jetzt sogar, weil die Tänzerinnen nach indischer Sitte eine Schulter frei lassen, drei Viertel des Bildschirms bedeckt.
Friedenskonferenz
    «Wann die Himmel zerkloben sind,/Und die Sterne zerstoben sind», beginnt der Koranrezitator die Friedenskonferenz der Provinz Kandahar, die unter noch strengeren Sicherheitsvorkehrungen als üblich mit zwei Stunden Verspätung beginnt: «Wann die Meere sind verschäumt,/Und die Gräber sind geräumt;/Wird eine Seele wissen, was/Sie hat getan und was versäumt.» In engen Stuhlreihen haben sich mehrere hundert Männer in traditionellen Gewändern zu einer regionalen Friedenskonferenz in Kandahar versammelt, am Rand ein halbes Dutzend weiblicher Delegierter mit Kopftüchern, dahinter ein ganzes Kontingent von Presseoffizieren der ISAF, der Internationalen Schutztruppen, manche mit Photoapparaten, andere mit Videokameras,
embedded
zwischen ihnen einige Journalisten, die ihre Schutzwesten und Helme abgelegt haben, auf der Bühne die afghanischen Amtsträger und westlichen Generäle in tiefen Sesseln. Nur die Taliban, um die es eigentlich geht, weil sie doch für den Frieden gewonnen werden sollen, die sitzen nirgends im fensterlosen Saal.
    Nach der Koranrezitation wird die Nationalhymne abgespielt, alle springen auf, dann begrüßt ein Minister und übergibt das Wort an den ehemaligen Präsidenten Borhanuddin Rabbani, den Vorsitzenden des Nationalen Friedensrates, der nicht als Freund der Regierung Karzai gilt und wohl deswegen ernannt wurde. Rabbani, ein etwas gebeugter, weißbärtiger und schmaler Herr mit besorgten Augen, trifft als Usbeke und Anführer der Nordallianz auf Vorbehalte im paschtunischen Süden, aber sein Plädoyer für die Aussöhnung ist klar und überaus eindringlich, übrigens auch in einem exzellenten Paschto formuliert, wie mein Nebenmann konzediert, der als Ortskraft für den persischsprachigen Dienst der BBC arbeitet. Man könne, ja müsse die Regierung für vieles kritisieren, betont Rabbani. Aber jetzt sei nicht der Moment für Dispute. Jetzt brenne das afghanische Haus, und alle müßten anpacken, um es zu löschen. Der Applaus ist laut und anhaltend.
    Nach Rabbani spricht General John Allen. Er sei gekommen, um zuzuhören und zu lernen, hat Allen in seiner kurzen Dienstzeit als Oberkommandierender der Internationalen Schutztruppen bereits die Tonlage verinnerlicht, mit der man in Afghanistan am meisten erreicht. Alle Entscheidungen müßten von Afghanen selbst getroffen werden, die ISAF unterstütze lediglich die legitimen Vertreter des Volkes, beteuert Allan ein ums andere Mal, um genauso oft zu versichern, daß die internationale Gemeinschaft Afghanistan auch nach 2014 nicht im Stich lassen werde. Die Taliban verlören immer weiter an Boden, ihre Anschläge seien Ausdruck ihrer Schwäche. Während der kräftig gebaute General in betont bescheidener Modulation spricht, als sei er beschämt von dem Privileg, vor diese erlauchte Versammlung treten zu dürfen, verwandelt sein schmaler Übersetzer noch die Anreden in einen flammenden Appell. – Lassen Sie mich von Herzen sprechen, sagt der General, worauf der Übersetzer die Hand tatsächlich an die Brust legt: Viel zu lange gehe der Krieg schon, so viel Leid hätten alle erfahren, jeder im Land sei müde. Auch auf der anderen Seite der Front wünschten sich viele Krieger nichts sehnlicher, als zu ihren Familien zurückzukehren. Jetzt sei die Zeit für sie, nach Hause zu kommen. Nicht alle Kämpfer werde man überzeugen. Aber jene, die bereit seien, die Geschicke ihres Landes friedlich mitzubestimmen, denen reiche man heute die Hand.
    – Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien Gottes reichen Segen, beendet der General seine Ansprache und bedankt sich auf Paschtunisch. Der Applaus dauert nicht länger als ein, zwei Sekunden.
    Ob die Rede so schlecht gewesen sei, frage ich meinen Nebenmann. Nein, nein, antwortet der Kollege, früher hätten die NATO-Generäle immer so martialisch geklungen; so einen Bescheidenen wie diesen Herr Allen hätten sie hier noch nicht gehört. Weshalb der Applaus dann so kurz ausgefallen sei, möchte ich wissen. Kein Stammesvertreter lasse sich gern dabei

Weitere Kostenlose Bücher