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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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bereits Ende der neunziger Jahre zu Konflikten innerhalb der Bewegung gekommen. Der kapitale Fehler der Taliban sei der Pakt mit Osama bin Laden gewesen. Mit al-Qaida habe das Verhängnis begonnen, und das hätten viele Kommandanten vorausgesehen, manche Osama bin Laden sogar für einen amerikanischen Agenten gehalten. Doch Mullah Omar habe alle Einwände in den Wind geschlagen. Es sind doch unsere Brüder, habe er gesagt, unsere Gäste.
    Nach der Vertreibung der Taliban 2001 habe Moulawi Abdolaziz sich den Behörden gestellt und sei amnestiert worden, das Dokument trage er immer noch mit sich. Geld habe er fortan im Waffenhandel verdient. Das Schlüsselerlebnis, den Kampf wieder aufzunehmen, sei eine Szene am Musa-Qala-Fluß gewesen: Aus einiger Entfernung habe er ausländische Soldaten gesehen, die eine afghanische Frau kontrollierten, ihr also auch den Leib abtasteten. Ohne nachzudenken, habe er eine seiner Waffen genommen und auf die Soldaten geschossen – ohne zu treffen, fügt Moulawi Abdolaziz bedauernd hinzu. Zwar sei er geflohen, aber bald schon verhaftet und im Gefängnis misshandelt worden. Wieder in Freiheit, habe er Männer um sich gesammelt und sich wieder den Taliban angeschlossen.
    Auch die Taliban seien erschöpft und von inneren Konflikten zermürbt, sagt Moulawi Abdolaziz, der sein Alter auf zweiunddreißigschätzt. Die Afghanen, die ohnehin nur noch ein Viertel der Kämpfer ausmachten, seien frustriert, weil längst pakistanische Pandschabis den Ton angäben, aber nicht nur die, sondern auch Araber, Zentralasiaten, sogar Chinesen. Die Ausländer seien nicht nur äußerst brutal, sie veruntreuten auch Geld, töteten jeden, der nicht mit ihnen zusammenarbeite, zerstörten die Schulen, vor allem die Mädchenschulen. Er selbst sei im pakistanischen Quetta zwei Tage lang verhaftet worden, weil er die ausländischen Taliban zu scharf kritisiert habe. Später habe er gehört, daß die Amerikaner angekündigt hätten, das Land zu verlassen. Er betrachte Mullah Omar noch immer als Amir ol-Momenin, als Befehlshaber der Gläubigen, auch heute. Aber die Taliban seien nicht mehr, was sie anfangs waren, sondern leider von Ausländern gesteuert, die kein Interesse an Afghanistan hätten und dessen Zerstörung in Kauf nähmen. Wenn die Regierung den afghanischen Kämpfern nur ein konkretes Angebot machen würde, würden sich viele dem Friedensprozeß anschließen. Er selbst habe durchaus noch Kontakt zu alten Gefährten, aber welches Argument habe er denn, um sie für den Frieden zu gewinnen, wenn er nicht einmal gebührend Gäste empfangen könne?
    Ich frage, was konkret denn Moulavi Abdolaziz von der Regierung erwarte. Ein größeres Haus, antwortet er sofort, eine Arbeit für seine Männer und für sich selbst ein Amt. Welches denn zum Beispiel? Zum Beispiel das Amt des Vorsitzenden des Gelehrtenrates der Stadt, schlägt Abdolaziz vor; der bisherige Vorsitzende sei vor kurzem ermordet worden. Aber er könne auch eine Theologische Schule leiten oder dergleichen. Und politische Forderungen? Die Gefangenen müßten freikommen, meint Abdolaziz und fügt erst auf eine weitere Nachfrage hinzu, daß nach einem Friedensschluß natürlich auch die Scharia wieder gelten müsse. Das Land sei schließlich islamisch, aber viele Frauen gar nicht oder nicht richtig verschleiert, nicht wie im Süden. Die Burka müsse es nicht sein, das Gesicht dürfe frei bleiben. Nein, gegen Mädchenschulen hätten die Taliban nichts, bekräftigt Abdolaziz, oder jedenfalls nicht die wahren Taliban, nicht Mullah Omar, der ganz anders sei,als viele Menschen meinten, ein bescheidener, stiller Mann, der Kinder liebe und die Barmherzigkeit. Wie oft habe er selbst erlebt, wie Mullah Omar jemanden begnadigte, der etwa seinen Bart rasiert hatte; der Amir ol-Momenin habe immer auch an die Familie eines Sünders gedacht.
    Was er eigentlich von Selbstmordanschlägen halte, frage ich. Wenn man den Feind angreife und dabei sterbe, dann sei das eine Heldentat, erklärt Moulawi Abdolaziz. Hingegen sei es eine große Sünde, sich unter unschuldigen Menschen, also im Basar, in einer Moschee oder auf der Straße, in die Luft zu sprengen.
    – Gehörten denn Selbstmordattentate nicht zu den Methoden der Taliban?
    – Nein!, ruft Moulawi Abdolaziz, das haben wir nie gewollt, das haben die Araber eingeführt.
    – Und die Anschläge vom 11. September 2001?
    – Darüber möchte ich nicht sprechen.
    – Warum?
    – Weil die Anschläge nicht in Afghanistan

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