Ausnahmezustand
wurden Geiseln genommen, dort stand einmal ein Haus, in dem sich Taliban versteckt hielten. Anders als im Norden scheint in Kandahar jeder einen Freund oder Verwandten zu haben, der ungute Erfahrungen mit den ausländischen Soldaten gemacht hat, sei es bei einer Straßenkontrolle, sei es bei einer Hausdurchsuchung, sei es bei einem Luftangriff aufs Heimatdorf. Lediglich die Kanadier, die eine Zeitlang hier Dienst taten, werden von der Kritik vielfach ausgenommen; außerdem hat Kanada die sonnenbetriebenen Straßenlaternen spendiert, über die sich die ganze Stadt freut. Und die Taliban? Viele Antworten sind ausweichend. Spürbar ist die Angst, etwas zu sagen, was ein Spitzel weitertragen könnte.
Wird man zum Tee eingeladen, was in Kandahar nicht mehr so schnell geschieht wie im Rest des Landes, oder unterhält sich, durch die Landeskleidung jedenfalls oberflächlich getarnt, im Basar etwas länger mit einem Händler oder Handwerker, erfährt man selten etwas Gutes, weder über die Taliban noch über den Staat. Statt dessen Verschwörungstheorien: Der Krieg sei nur ein Vorwand, damit die amerikanische Besatzung fortdauert – würden denn die Taliban nicht von Pakistan aus agieren? Sei nicht Pakistan ein Vasall Amerikas? Und könne man wirklich glauben, daß die größte Militärmacht der Welt nicht mit ein paar tausend Kämpfern auf Pick-ups fertig werde? Was immer man von dem Verdacht halten mag, den in Kandahar fast jeder Bewohner zu hegen scheint, sollte die ISAF die Heerschar ihrer Presseoffiziere vielleicht nicht nur für die Betreuung westlicher Journalisten einsetzen. Auch die Afghanen haben viele Fragen.
Stammesführer II
Moulavi Abdolaziz vom Stamm der Nurzai erwartet mich mit seinen Männern abends auf einer Decke, die mitten auf der breiten, unbeleuchteten Straße ausliegt. Vor kurzem noch Oberster Richter der Taliban in der Provinz Helmand, ist er einer der ranghöchsten Widerstandskämpfer, die sich dem Friedensprozeß angeschlossen haben. Das Haus, das die Regierung ihm und seiner Familie gestellt habe, verfüge über keinen eigenen Bereich für die Frauen, entschuldigt sich Abdolaziz, daher müsse er jedesmal vor die Tür gehen, wenn Besuch kommt. Aber sei es denn nicht zu riskant, seinen Tee hier mitten auf der Straße zu trinken, frage ich und meine nicht die Gefahr, im Dunkeln überfahren zu werden. Er wisse, daß zehn Selbstmordattentäter auf ihn angesetzt seien, antwortet Abdolaziz, aber das Haus, das ihm die Regierung gestellt habe, sei nun einmal zu klein, er könne niemanden darin empfangen, dabei erwarte er eigentlich jeden Tag sechzig, siebzig Gäste. Der Regierung sei es offenbar egal, ob er in Würde lebe, ob er umgebracht werde. Und was sei mit den hehren Worten, friedenswillige Taliban mit offenen Armen zu empfangen? Daran habe er auch geglaubt, meint Abdolaziz, aber jetzt stelle er fest, daß alles nur Gerede sei, die Regierung gar nicht an Frieden interessiert.
Moulawi Abdolaziz hat eine betörend milde Stimme. Wie in Zeitlupe schwingt der Oberkörper vor und zurück, während der Blick sanft auf seinem Gegenüber ruht. Überhaupt ist der Umgangston der Männer von einer Freundlichkeit, ja Zartheit, daß sich das Feindbild, das ich mir von einem Talib gemacht habe, schon nach einigen Minuten in Luft auflöst. Ein älterer Herr nennt den Stammesführer ironisch Präsident und fragt mit leisem Spott, ob man das Gespräch nicht beim Essen fortsetzen könne. Während Abdolaziz noch lächelnd meinen obligaten Einwänden lauscht, keinen Hunger zu haben, nach Hause zu müssen, nicht zur Last fallen zu wollen und so weiter, wird schon die Plastikdecke auf dem Teppich ausgebreitet und das Essen aufgetragen, Salat, Brot,Joghurt, Kräuter und ein unwiderstehlich gewürztes Curry, zum Nachtisch Trauben und Melonen.
Nach dem Essen erzählt Moulawi Abdolaziz seine Geschichte, die ich notgedrungen ungeprüft mitschreibe, das Notizbuch von einer Taschenlampe beleuchtet, die einer der Männer für mich hält: Noch als Jugendlicher habe er sich Anfang der neunziger Jahre den Taliban angeschlossen, damit Raub, Vergewaltigung und Mord im Land ein Ende fänden. Ihr Regiment sei streng gewesen, ja, aber absolut gerecht, niemand habe über dem Gesetz gestanden, Mord, Ehebruch, Vergewaltigung, Diebstahl, Päderastie, Hunger, Korruption, das alles habe es unter den Taliban nicht gegeben. Allerdings hätten mit der Zeit immer mehr Ausländer das Wort geführt, Pakistanis und Araber vor allem, und es sei
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