Ausnahmezustand
beobachten, einem General der NATO zu applaudieren. Die Taliban hätten überall ihre Spitzel.
Burhanuddin Rabbani hat auf der Konferenz seine letzte Rede gehalten. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Kabul, am20. September 2011, wird der Vorsitzende des Nationalen Friedensrates in seinem hochgesicherten Haus ermordet. Der Attentäter, der den Sprengsatz unterm Turban versteckte, gab sich als versöhnungswilliger Vertreter der Taliban aus. Perfider kann man Mißtrauen nicht säen.
Stammesführer I
Die Straße, die zum Haus von Hadschi Agha Lalay führt, Mitglied des Provinzrates und Führer des Stammes der Alkozay, ist abgesperrt, vor der Tür Wachleute mit Maschinengewehren. Von knapp fünfhundert Stammesführern in der Provinz Kandahar, die mit der Regierung zusammenarbeiteten, ist Lalay der einzige, den die Taliban noch nicht umgebracht haben. Die Schlaufe des schwarzen Turbans wohlplaziert auf der Brust, empfängt er mich mit einer stillen, weihevollen Umarmung und führt mich in den Empfangsraum, wo die einzigen Stühle des Hauses stehen. Auch Lalay erklärt, die Lage sei jetzt etwas besser, der Gegner aus weiten Teilen der Provinz vertrieben worden, weil die NATO den Kampf endlich aufgenommen habe. Bis vor einigen Monaten hätten die Menschen der Region den Eindruck gehabt, daß die militärischen Strategien mancher Mitgliedsländer sich mehr an den Zwängen der jeweiligen Innenpolitik als an der Gefechtslage ausrichten.
– Das heißt, Sie beklagen nicht die Härte, sondern die Zurückhaltung mancher ausländischen Truppen?
– Das ist nun einmal keine Übung hier.
Ja, es habe Opfer gegeben, sehr viele unschuldige Opfer, aber das sei nicht zu vermeiden in einem schmutzigen Krieg, in dem sich die eine Seite bevorzugt in Häusern gewöhnlicher Dorfbewohner versteckt halte und die andere Seite aus Furcht vor Verlusten den Bodenkampf meide. Die Dorfbewohner hätten keine andere Wahl, als die Taliban zu beherbergen, weil umgebracht werde, wer nicht kooperiere; und wenn die Dörfler aus Not kooperierten, ereile sie der Tod dann oft aus der Luft. Weder der Regierung noch der NATOmit all ihren Soldaten, Panzern und Aufklärungsflugzeugen sei es gelungen, die Menschen vor den Taliban zu schützen, das sei ein großes Versagen. Gerade heute habe er aus einem seiner Dörfer gehört, daß Taliban sich mit Drohungen Einlaß in die Häuser verschafft hätten. Kurz darauf seien schwerbewaffnete amerikanische Truppen ins Dorf gestürmt und hätten nicht nur die feindlichen Kämpfer, sondern auch viele männliche Dorfbewohner verhaftet. Den ganzen Tag telefoniere er schon, um die eigenen Leute wieder freizubekommen. Allein im Gebiet seines Stammes seien in den letzten Jahren achtzehn Schulen und fünf Krankenstationen gebaut worden – aber jetzt seien alle verwaist, weil sich die Menschen nicht mehr in die Klassen oder zu den Ärzten trauten, alle Entwicklungsarbeit umsonst. Ob die Regierung ihn ausreichend schütze, da er sich als Stammesführer gegen die Taliban wende? Hadschi Agha Lalay vertraut auf Gott und seine eigenen Wachleute. Zwei Attentate hat er schon überlebt.
Kandahar
Von Alexander dem Großen gegründet, ist das heutige Kandahar das Zentrum des paschtunischen Siedlungsgebietes, damit auch die eigentliche Hauptstadt der Taliban; hier zogen sie 1996 zuerst ein, hier hielten sie die Stellung 2001 am längsten. Hier hielt Mullah Omar den Mantel des Propheten in die Höhe, der in einem Schrein aufbewahrt wird, und rief sich zum Amir ol-Momenin aus, zum Befehlshaber aller Muslime weltweit. Diese Stadt hoffen die Taliban als erste wieder zu erobern. Entsprechend wirkt Kandahar noch immer wie im Belagerungszustand, auf den Zufahrtstraßen alle hundert Meter die Checkpoints der afghanischen Armee, im Zentrum an jeder größeren Kreuzung die Panzerwagen der NATO, im Himmel Überwachungszeppeline und Hubschrauber. Der Kollege vom persischsprachigen Dienst der BBC, der mich in seinem Kleinwagen kreuz und quer durch die Stadt fährt, weiß auf den Ausfallstraßen genau, an welcher Brücke oder welchem Verkehrsschilder umkehren muß. Auch für den örtlichen Mitarbeiter eines ausländischen Senders und selbst für die Redakteure der lokalen Medien ist das Entführungsrisiko schon ein paar Kilometer außerhalb Kandahars zu groß.
Im Zentrum selbst gibt es kaum einen Häuserblock, der nicht vom Krieg erzählt: An diesem Rekrutierungsbüro der Polizei hat sich ein Attentäter in die Luft gesprengt, in jener Schule
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