Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
geschahen und nicht von Afghanen begangen wurden.
    – Aber grundsätzlich – sind westliche Zivilisten für Sie legitime Angriffsziele?
    – Nur wenn sie gegen den Islam kämpfen.
    – Also nicht der Ungläubige als solcher?
    – Haben wir dich etwa nicht freundlich empfangen?
    – Ich bin Muslim.
    – Wir hätten dich genauso freundlich empfangen, wenn du Christ oder Jude wärst. Du willst uns nicht angreifen, nicht unsere Kultur zerstören, also ist es unsere Pflicht und Ehre, gastfreundlich zu sein.
    Ob er den Entschluß bereue, sich dem Frieden angeschlossen zu haben? Und ob er ihn bereue! antwortet Moulawi Abdolaziz, ohne zu zögern. Aber zurück könne er auch nicht, die Taliban tränken schon sein Blut.
Die Grenze der Berichterstattung
    Ein Bettlaken über dem Bauch, der Oberkörper spindeldürr und die Schenkel mit Wunden übersät, die an der frischen Luft trocknen, liegt «Die Gnade Gottes», wie der Name Rahmatullah wörtlich übersetzt heißt, im Hof des Mirwais-Krankenhauses. Die Unterarme, vom Jod noch gelb, zeigen im rechten Winkel nach oben, als solle jeder die Stümpfe sehen, an denen bis vor ein paar Tagen Hände waren. Die Haare stehen ihm zu Berge, aber das ist nur vom Staub, und Rahmatullah macht dazu das friedfertigste Gesicht. Er sei zwanzig Jahre alt, sagt er, Schäfer und mit der Herde unterwegs gewesen, als er auf dem Boden etwas Metallenes entdeckt habe, so eine runde Scheibe. Er habe sie aufgehoben, ja, und da sei die Mine auch schon explodiert. Er habe schon geahnt, daß es etwas Gefährliches sein könne, aber sei neugierig gewesen, habe auch gar nicht richtig nachgedacht. Dann lacht Rahmatullah, weil man sich ja über so eine Dummheit bei niemandem beschweren könne, lacht so herzlich und breit, daß die oberen Backenzähne zu sehen sind. Selbst die Angehörigen, die um das Bett herum stehen, ein Kind und Männer verschiedenen Alters, von denen der Älteste ihn streichelt, müssen jetzt schmunzeln über die Dummheit von Rahmatullah oder vielleicht nur, weil das Lachen so rührend ist auch für sie. Ob man die Menschen auf dem Land denn noch immer nicht über die Gefahren von Minen aufgeklärt habe, frage ich fassungslos. Ja, sagt Rahmatullah, sie hätten schon mal etwas gehört, aber so genau nun auch nicht Bescheid gewußt, was es mit diesen Teilen auf sich habe. Was er denn tue, wenn er zurückkehre ins Dorf, ob irgendwer ihm helfe, ein Staat oder eine Hilfsorganisation? Gott hilft, antwortet Rahmatullah und fängt wieder an zu lachen.
    – Dein Lachen bringt mich zum Weinen, entschuldige ich mich für meine Tränen.
    Siebenhundert bis achthundert Patienten suchten das Mirwais-Krankenhaus jeden Tag auf, berichtet der Chefarzt Mohammad Qasem, der zwischen dem dichtem Bart und den matten Augentiefe Furchen im Gesicht hat. Hinzu kämen die Angehörigen, die im Garten oder auf den Fluren campieren. Die anderen Städte des afghanischen Südens verfügten allenfalls über Krankenstationen. Im Schnitt müßten sie jeden Tag ungefähr hundert Patienten stationär aufnehmen, von denen vielleicht zwanzig Opfer des Krieges seien, Minenopfer, Anschlagsopfer, Opfer von Luftangriffen, auch verwundete Taliban, für die das Krankenhaus eine Art Immunität ausgehandelt habe – für einen Arzt müsse jeder Patient schließlich gleich sein. Daß sie Krieger beider Parteien versorgen, habe nebenbei den Vorteil, von niemandem bedroht zu werden. Viele Patienten seien hier, die die Signale der ausländischen Soldaten nicht richtig zu deuten gewußt hätten, hätten sich etwa einem Konvoi genähert, statt anzuhalten, und seien deshalb angeschossen worden. Sei es kein Verbrechen, ein ganzes Dorf zu bombardieren, weil sich in einem einzigen der Häuser ein Feind versteckt halten könnte? Und schließlich erkläre sich auch die hohe Anzahl von Verkehrsopfern teils mit dem Krieg; aus Furcht vor Überfällen führen die Fahrer auf den Überlandstrecken so schnell, von den vielen Nervenkranken gar nicht zu reden, jeden Tag vierzig, fünfzig Patienten mit schweren Störungen, Aggressionen, Schlaflosigkeit, Verfolgungswahn und dergleichen. Nach vierunddreißig Jahren Krieg seien achtzig Prozent der Afghanen psychisch gestört, schätzt Dr. Qasem, und auch das traditionelle Wertgefüge sei verfallen, Aufrichtigkeit, Vertrauen, die Achtung vor dem Gesetz, der Respekt vor Autoritäten. Ob er glaube, daß der Krieg jemals zu Ende geht, frage ich. Ach was, antwortet Dr. Qasem, Tag für Tag werde es schlimmer; dieses

Weitere Kostenlose Bücher