Ausnahmezustand
Teppich. Das ist in Afghanistan üblich, damit die Gäste beim Gehen leichter in ihre Schuhe hineinschlüpfen können. Auch auf diese Geste sollte die Welt in Afghanistan achten.
DER AUFSTAND
Teheran, Juni 2009
Zufallsgemeinschaft
Wieder öffnet sich im letzten Moment eine Tür, diesmal ein Rollgitter, um genau zu sein, das Rollgitter eines schmalen Sanitärgeschäfts in einer sechsspurigen Straße, auf der eine Einheit der Freiwilligenmiliz heranrückt, der
Bassidsch
, etwa hundert Mann mit Helmen, Schilden, Knüppeln und Schutzwesten über der Zivilkleidung. Der Ladenbesitzer, ein kleiner, leicht gebückter Mann mit grauen Haaren und weißem Schnurrbart, zieht das Gitter hinter uns herab. Wir: vier Menschen unterschiedlichen Alters, die sich nicht kennen, drei Männer und eine Frau. Hektisch stellen wir uns einander vor, obwohl keine Eile ist, da wir für unbestimmte Zeit ein paar Quadratmeter teilen wie einen Aufzug, der stehengeblieben ist, einer Ingenieur, der andere Student, sie Lehrerin, der vierte eigentlich nur Berichterstatter. Aus dem Ausland? fragt die Lehrerin, als sei das allein schon eine gute Nachricht.
– Wir müssen uns verstecken! ruft der Ingenieur: Wenn die Freiwilligenmiliz uns entdeckt, wird sie den Laden anzünden.
Aber die Freiwilligenmiliz erreicht den Laden nicht. Viele der Demonstranten haben sich umgedreht und bewerfen die Milizionäre mit Steinen. Wieder werden Müllcontainer auf die Straße gerollt und angezündet. Auch aus anderen Richtungen fliegen Steine, keine zwei Meter von uns entfernt beteiligen sich zwei ältere, glattrasierte Herren am Kampf, auf der anderen Straßenseite Frauen. Manche der Milizionäre wollen weiter vorrücken und werfen ihrerseits mit Steinen, andere weichen zurück. Durch das Rollgitter sehen wir, daß die Milizionäre untereinander diskutieren, wir sehen den Anführer schreien, als plötzlich die Demonstranten «Gott ist größer!» rufen und nach vorne stürmen.
Der Jubel, der ausbricht, weil die Freiwilligenmiliz davonrennt, währt keine fünf Minuten, dann rückt schon ein Antikrawallkommando an, das
zedde schuresch
. Der Sanitärhändler schließt dieGlastür und nimmt uns mit in sein Lager. Von dort aus hören wir Schüsse, Schreie, Sirenen. Weitere fünf Minuten später ist es wie auf Knopfdruck still. Als der Sanitärhändler uns die Glastür öffnet und das Rollgitter hochfährt, betreten wir ein verlassenes Schlachtfeld, Rauchschwaden, der Boden übersät mit Steinen und den Glassplittern der Autos, hier und dort Feuer. Aus den benachbarten und gegenüberliegenden Häusern kommen zu viele Menschen zum Vorschein, als daß sie alle Anwohner sein könnten, und reiben sich die Augen. In der Luft liegt noch der Geruch von Tränengas. Es ist Samstag, der 20. Juni 2009. Was wie Krieg aussieht, war noch ein Schweigemarsch, als ich drei Tage zuvor in Teheran eintraf.
Ankunft
Der Fahrer, der mich vom Flughafen ins Zentrum bringt, ist am Freitag nicht einmal wählen gegangen. Ob er dennoch etwas von den Demonstrationen mitbekommen habe, die nach Bekanntgabe des offenbar gefälschten Wahlergebnisses ausbrachen?
– Mein Herr, sagt er, ich hätte mich schon zu Hause einsperren müssen und mit niemandem reden dürfen, um nichts von den Demonstrationen zu bemerken.
Und die Gründe, Hintergründe? Der Fahrer versorgt mich mit Details und dementiert Gerüchte. Nein, die Antikrawallkommandos bestünden nicht aus Ausländern. Ja, es gebe genug Iraner, die unter Umständen, die der Staat herbeiführen könne, bereit seien, ihre eigene Mutter niederzuknüppeln. Er selbst war lange Jahre Soldat. Die Anforderungen an eine militärische Laufbahn seien komplex. Einen großen, athletischen Körper zu haben, genüge nicht. Man müsse sich mit vielem auskennen, umfassend trainiert und klug genug sein, um auch in den Situationen richtig zu reagieren, die man nicht simulieren könne. Aber eine Aufgabe gebe es, für die man als Soldat lediglich einen großen, athletischen Körper benötigt und möglichst wenig Verstand. Die Antikrawallkommandos würden genau danach ausgewählt, nach Größe und Dummheit,und so indoktriniert, daß sie in den Situationen gerade nicht nachdenken, die man nicht simulieren kann.
Mittwoch
Im Ingenieurbüro des Freundes ist um halb vier Dienstschluß, damit alle Angestellten an der Demonstration teilnehmen können. Bis Viertel nach vier ist man allerdings mit dem Qualifikationsspiel für die Fußballweltmeisterschaft beschäftigt,
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