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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Gerede von Friedengesprächen, vom Schutz der Zivilisten – diese hochgesicherten Konferenzen – alles Lüge. Alle wüßten doch, daß nicht die Afghanen das Schicksal ihres Landes bestimmten, sondern das Ausland; Pakistan, die Vereinigten Staaten, Iran, China, Rußland, Indien, Saudi-Arabien, alle mischten sie mit.
    – Weshalb führen sie ihre Kriege nicht untereinander, weshalb lassen sie Afghanistan nicht endlich in Frieden?
    Dr. Qasem führt mich durchs Krankenhaus, in dem auch einige europäische Ärzte und Schwestern arbeiten, wie die Einheimischenmindestens zehn Stunden am Tag sechsmal die Woche. Kinder liegen mit Verbrennungen nackt auf einem Bett, manchmal zu zweit, und wimmern, neben ihnen Väter in vollständiger Verzweiflung. Aber an den Rand des Gebietes, das für meine eigene Berichterstattung zugänglich ist, trete ich erst vor dem Bett eines Zwölfjährigen, der tags zuvor zwischen die Fronten eines Feuergefechtes im Dorf Panjabad geriet. Dr. Qasem hat schon das Tuch angehoben, um den zerfetzten Magen zu zeigen. Dann hält er einen Augenblick inne und legt das Tuch wieder vorsichtig auf den Jungen:
    – Wir haben hier schon Traumatisierte genug, erklärt Dr. Qasem, warum er mir den Anblick erspart.
Friedhof II
    Nachdem ich Nur Agha und sein Schaf photographiert habe, gehe ich weiter über den Friedhof von Kabul. Diesen und jenen seiner Bewohner spreche ich an und bekomme als Antwort auf meine Frage mal die Vier genannt, mal die Acht, mal die Zwölf. Vier Märtyrer, acht Märtyrer, zwölf Märtyrer. An einem Wassertank füllen Kinder große Kanister auf. Die verdreckten Gesichter, die verfilzten Haare und die Lumpen an den schmalen Leibern erübrigen die Frage, ob sie die Schule besuchen. Freudig posieren die Jungen und Mädchen fürs Photo – ja, macht nur, winkt ein älterer, großgewachsener Herr, der etwas bessere Kleidung trägt – und können es kaum glauben, als sie sich anschließend auf dem kleinen Display meines Apparats sehen. Der Herr stellt sich vor – sein Name Hadschi Niaz Mohammad, Friedhofswächter von Beruf, sechzig Jahre alt – und hat sich nach zwei Minuten bereits in Rage geredet: Ein Hundeleben führten sie hier, arm und von niemandem respektiert.
    – Schau dir diese Kinder an, schau in ihre Gesichter. Schau auf die Zelte: Warum müssen Menschen auf dem Friedhof wohnen?
    Ob irgendwer helfe, villeicht der Staat?
    –Ach, woher.
    Und eine der internationalen Organisationen, etwa die Vereinten Nationen?
    – Die Vereinten Nationen – der Hadschi lächelt bitter – die Vereinten Nationen gibt es doch nur im Fernsehen.
    Dreitausend Afghanis verdiene er im Monat, umgerechnet fünfzig Euro, ohne Altersvorsorge oder Versicherung. An manchen Tagen habe er so wenig Geld, daß er den bettelnden Kindern nichts zustecken könne.
    – Nein, kein Hundeleben, wir leben noch schlechter als Hunde. Hunde schämen sich wenigstens nicht. Dann zeigt er auf das Notizbuch, das ich in der Hand halte: Ich schreib dir zwölf deiner Bücher voll, so groß ist unser Schmerz.
    Der 11. September 2001?
    – Ich weiß nicht, wer so etwas tut und warum, seufzt der Hadschi: Ich weiß nur, daß wir Afghanen dafür büßen mußten, alle Afghanen. Wissen Sie, wir sind kein Volk ohne Geschichte. Wir hatten aufrechte Führer, wir hatten Dichter, wir hatten ein Ansehen in der Welt. Es gab Zeiten, da haben wir mit Deutschland Handelsverträge geschlossen, da haben wir in Deutschland Mercedes-Benz bauen lassen. Aber heute sind wir die Bettler Deutschlands. Heute bringt ein Selbstmordattentäter einen deutschen Kommandanten um, und alle Deutschen halten uns für Terroristen.
    Ob es denn unter den Taliban besser gewesen sei, frage ich. Immerhin habe es unter den Taliban keine Diebe, keine Vergewaltiger, keine Mörder gegeben, sagt der Hadschi, nachdem er lange überlegt hat. Die Kabulis konnten nachts die Türen offenlassen oder an der Friedhofsmoschee die Spendendose unverschlossen, aus der die Bewohner versorgt wurden. Heute leere das Ministerium für religiöse Stiftungen die Dose, so daß kein Afghani den Friedhof erreiche.
    Hadschi Niaz Mohammad führt mich in den Hof der Moschee, wo er wohnt. Blitzschnell ist ein Teppich ausgerollt, eine Plastikfolie in die Mitte gelegt, eine Teekanne, Gläser, Brot und Joghurt darauf gestellt:
    –Aber für seine Gastfreundschaft ist Afghanistan noch immer weltberühmt, behaupte ich.
    Später bemerke ich, wie der Hadschi unauffällig meine Schuhe herumdreht, die Ferse zum

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