Ausnahmezustand
Tor für Iran, Jubel. Die Namen der Spieler, die ein grünes Armbändchen tragen, drehen eine Runde nach der anderen durch die Großraumbüros. Dann der Ausgleich: Wenn Saudi-Arabien und Nord-Korea heute nacht unentschieden spielen, hat Iran nicht einmal die Relegationsspiele für die Qualifikation erreicht, aber jetzt schnell zum Protestmarsch, der keine zehn Minuten entfernt bereits in der Revolutionsstraße begonnen hat.
Da die ersten Toten zu beklagen und alle Proteste untersagt sind, ziehen die Menschen schweigend durch das Teheraner Zentrum, rufen keine Slogans, führen keine Plakate oder Fahnen mit sich. Selbst von der Hochstraße aus, die auf
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später dutzendfach zu sehen sein wird, überblicke ich weder den Anfang noch das Ende des Zuges. Die meisten halten ein Din-A-4 großes Blatt mit einem Spruch oder dem Photo eines Erschlagenen in die Höhe, das sie selbst ausgedruckt haben. Favorit sind sarkastische Anspielungen auf die Behauptung des Präsidenten, daß in Teheran nur einige Hooligans unterwegs seien wie nach einem verlorenen Fußballmatch. Noch nie hat eine Masse auf mich so individuell gewirkt, jeder formuliert den Protest auf eigene Weise. Nicht einmal Ordner sind ausgewiesen, nur hier und dort steht jemand auf der Leitplanke und verkündet eine Nachricht, die sich wie ein Lauffeuer ausbreitet. Morgen um zwei vor den Vereinten Nationen. Nein, morgen um vier auf dem Freiheitsplatz. Streckt alle die Hände hoch! Vor Einbruch der Dunkelheit bitte auflösen.
Es ist nicht klar, ob die Ordner sich spontan auf die Leitplankegestellt haben oder einer Organisation angehören, die ansonsten unsichtbar bleibt. Nachdem die Wahlkampfzentralen zerstört wurden, sitzen die Oppositionsführer, die noch nicht verhaftet worden sind, zu Hause und telefonieren. Der mutmaßliche Wahlsieger Mir Hussein Musawi taucht ohne Ankündigung, die zu gefährlich wäre, bei den Demonstrationen auf, hat aber nur ein Megaphon, um sich verständlich zu machen. Das Handy ist nur vormittags zu gebrauchen, Kurzmitteilungen gar nicht möglich, das Internet so langsam geworden, daß es mit Glück noch für E-Mails taugt. Fernsehsendungen und Feuilletondebatten im Westen ranken sich um den Mythos der ersten politischen Massenbewegung, die mittels Facebook, Twitter, SMS und Google Groups kommuniziert; tatsächlich sind die Demonstranten auf Mund-zu-Mund-Propaganda zurückgeworfen. Peinlich genau sind sie darauf bedacht, den Antikrawallkommandos, die hinter diesem oder jenem Häuserblock bereitstehen mögen, keinen Vorwand zum Einsatz zu liefern. An den großen Kreuzungen bleiben sie bei Rot stehen, damit die Autos passieren können. Wenn es Grün wird, beeilen sie sich, um die entstandene Lücke schnell zu schließen. Hundert Meter weiter fordert ein Ordner sie auf, wieder langsam zu gehen, damit die Hinteren aufschließen können.
Da alle politischen Forderungen lebensgefährlich geworden sind, konzentriert sich die Opposition darauf, die Einhaltung des Gesetzes zu fordern, was die größte Provokation zu sein scheint. Überhaupt ist es kurios, zu sehen, wie die Bewegung dem Regime die Symbole geklaut hat. Während die Anhänger von Staatspräsident Mahmud Ahmadinejad nationalistisch mit der Landesfahne wedeln, um ihr religiöses Image abzulegen, trägt die Opposition, die nicht mehr in einer Theokratie leben will, das islamische Grün: jeder auf seine Weise, als Schal, als Kopftuch, als Armband oder Schnur zwischen den Fingern. Die grünen Stirnbänder kannte man von den Freiwilligen, die im Krieg gegen den Irak auf die Minenfelder liefen, oder von der libanesischen Hisbollah. Jetzt werden sie zu ultramodischen Frisuren getragen und passen bestens zu den schmalen Koteletten, die sich quer über die Wangen ziehen. JedenAbend um zehn rufen Menschen in der ganzen Stadt «Gott ist größer» von den Dächern und Balkonen, selbst der Zoroastrier, der mich später nach Hause fährt: So weit hat uns die Islamische Republik gebracht, schimpft er, daß wir vor Verzweiflung
Allaho akbar
rufen wie Muslime. Daß Gott größer ist, übertrifft dabei jede Parole an Gehalt: größer als Ihr, die Ihr Euch wie Götter aufführt.
Gegen alle Vernunft schauen der befreundete Ingenieur und ich nachts noch das Fußballspiel an, das einen Sieger haben muß, damit Iran sich für die Weltmeisterschaft qualifiziert. Wie im Flipper schießen die Saudis den Ball vor den Strafraum der Nordkoreaner, wo er zufällig von Bein zu Bein kreiselt und in die
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