Ausnahmezustand
eigene Hälfte zurückkullert. Weil beide Gegner sich dem Wettbewerb verweigert haben, bestraft der Schiedsrichter uns mit acht Minuten Nachspielzeit.
Donnerstag
Unter allen häßlichen Plätzen Teherans nimmt der Kanonenhausplatz, der heute nach Ajatollah Chomeini benannt ist, einen besonderen Rang ein. Er wird überragt von einem himmelhohen Rechteck aus schmutzigem Beton, in dem das Fernmeldeamt untergebracht ist, ringsum niedrigere Gebäude derselben Konsistenz, in der Mitte acht Spuren einer Einbahnstraße und eine ebenso große Asphaltfläche, die einmal ein Parkplatz gewesen sein könnte und heute die nicht weiter definierte Fläche vor dem Eingang der U-Bahn ist. Wer hier wohnt oder seinen Laden hat, einst das prächtige Zentrum Teherans, später Vergnügungsmeile und heute Arme-Leute-Gegend, mag es für realistisch halten, daß Mahmud Ahmadinejad bei den Präsidentschaftswahlen zwei Drittel der Stimmen erhielt.
Der junge Mobilfunkhändler, der trotz des Protestzugs vor dem Schaufenster rasch eine iranische SIM-Karte verkauft, zeigt mir spöttisch den Vogel, als ich ihn frage, warum er nicht auf die Straße geht. Der Präsident imponiere ihm, sagt er, seine Furchtlosigkeit, sein Patriotismus und vor allem, daß er einer von ihnen seiund gegen die Bonzen der Islamischen Republik kämpfe. Mit der Religion habe er es persönlich weniger, interessiere sich für Fußball und Filme. An den Wänden hängen Poster amerikanischer Actionhelden, in den Haaren glänzt Gel. Auf den Einwand, daß der Präsident Kritiker verhaften läßt, erwidert er trocken: Das tun sie doch alle. Und die Zensur? Es erscheinen überhaupt keine Romane!
– Mein Herr, ich lese keine Romane, in den Zeitungen steht sowieso nichts.
Holocaust?
– Ich habe keine Ahnung, was stimmt und was nicht stimmt, aber der Präsident hat doch nur eine Frage gestellt.
Wirtschaftlich halten sich die Vor- und Nachteile die Waage: Was die Familie an direkten Zahlungen oder Coupons erhält, wird von der Inflation aufgefressen, räumt der Mobilfunkhändler ein. Es ist keine blinde Gefolgschaft: Er denkt, man sollte dem Präsidenten wie seinen Vorgängern eine zweite Amtszeit einräumen, damit er aus seinen Fehlern lernt, die Inflation in den Griff bekommt und nicht alle gegen sich aufbringt.
– Viel Spaß beim Demonstrieren, ruft er mir nach, als ich mich wieder in den Zug einreihe.
– Ich will mir nur ein Bild machen, rufe ich zurück und stöhne erst jetzt über das Wetter, obwohl es an den vorherigen Tagen genauso heiß war, in der Sonne sicherlich über vierzig Grad.
Anders als bei der ersten Großkundgebung am Montag, als sich nach Angaben des Bürgermeisters, der selbst ein Konservativer ist, drei Millionen Menschen aus allen Altersgruppen versammelten, sind es vor allem junge Leute, die sich noch auf die Straßen trauen, viele Studenten, aber auch Angestellte, Stewardessen in Uniform, Mädchen im Tschador, überhaupt viele Frauen, mehr als die Hälfte, scheint mir, beileibe nicht nur die Jugend des wohlhabenden Teheraner Nordens, vielmehr ist die gesamte iranische Studentenschaft vertreten, höre ich aus den Gesprächen heraus, besonders viele Leute aus der Provinz, die in Wohnheimen wohnen und nun Zeit zum Demonstrieren haben, weil die Prüfungen abgesagt wurden.Der Riß verläuft nicht zwischen den Bürgern und den Habenichtsen, zwischen Stadt- und Landbevölkerung, zwischen dem Norden und dem Süden der Stadt, eher zwischen den Generationen, vielleicht noch den Schulabschlüssen. Viele der Demonstranten sind die Kinder derjenigen, die ihr Leben für einen islamischen Staat zu geben bereit waren und auch am vergangenen Freitag wie selbstverständlich den Kandidaten des Führers wählten. Die höheren Schulen und Universitäten, die die Kinder besuchen, haben die Eltern mit ihrer Revolution erkämpft.
Am fünften Nachmittag in Folge auf der Straße scheint das Adrenalin der Demonstranten verbraucht, das die Überraschung über die eigene Stärke und der Schrecken über die Opfer erzeugt haben. Indem die Regierung den Widerstand zu ignorieren behauptet und sich weiterer spektakulärer Übergriffe enthält, nicht einmal Verkehrspolizisten vorbeischickt, aber gleichzeitig alle Berichte unter Androhung von Gefängnisstrafen untersagt, rutschen die Proteste in den internationalen Nachrichten nach hinten. Die Informationsblockade funktioniert: Nicht nur sind sich die täglichen Schweigemärsche in der dürftigen Optik der Handybilder zu ähnlich;
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