Ausnahmezustand
die Aufnahmen dringen zu spät, zu verstreut nach draußen, um die Abendjournale rechtzeitig zu erreichen. Man muß demnach nur das Internet je nach Tagesgeschehen verlangsamen, das Mobilfunknetz abschalten und keine Journalistenvisa mehr erteilen, schon ist der Stecker aus der Globalisierung gezogen. Als lebte ich noch im Zeitalter vor der Telegraphie, werde auch ich erst nach Deutschland zurückkehren müssen, um meine Nachrichten zu überbringen. Für morgen hat Ajatollah Chamenei angekündigt, die Freitagspredigt zu halten. Weil die Zeichen, die er diese Woche gab, mal in die eine, mal in die andere Richtung deuteten, kreisen die Gespräche um die bange Frage, ob der Revolutionsführer sich zu einem Kompromiß durchringt oder morgen das Zeichen zum Sturm geben wird.
Freitag
Ausgerechnet wegen ihres Mobiltelefons gelangen Tausende nicht auf den Campus. Aus Sorge vor einem Anschlag soll man sie in einem der Busse abgeben, die vor dem Eingang stehen, doch sind es trotz aller Mahnungen, sie nicht mitzubringen, so viele, daß sich vor den Bussen große Trauben von Menschen gebildet haben, die ihr Telefon in kleinen Plastiktüten, die kostenlos verteilt werden, einem der Ordner ans Busfenster reichen wollen. Durch Bekleidung, Brille und Bewegung als Bürgersohn ausgewiesen, nutze ich zum Durchschlängeln meinen Bonus als Auswärtiger, der löblich das Freitagsgebet besuchen will, und erreiche nach einer halben Stunde tatsächlich das Busfenster, gerade als die numerierten Zettel ausgehen. Seit drei Tagen erst, dafür um so kräftiger, trommelt das Staatsfernsehen, werben die Zeitungen, organisieren die Verbände, verabreden sich Sportvereine, werden Soldaten, Milizen und Staatsangestellte mobilisiert für den historischen Tag, an dem Führer und Volk «ihren Eid erneuern», wie es in Anspielung auf den prophetischen Bund in Medina stets heißt. Die Demonstration gelingt eindrucksvoll, zeigt der Augenschein und werden am Abend die Bilder aus den Hubschraubern bestätigen.
Dreimal habe ich das Teheraner Freitagsgebet zuvor besucht und an einem müden Ritual teilgenommen, bei dem einige Zehntausend Funktionäre, Soldaten und letzte Getreue die Revolution pflichtgemäß hochleben ließen und auf Zuruf die üblichen Todeswünsche skandierten, Tod Amerika, Tod Israel, Tod den Feinden der Herrschaft des Rechtsgelehrten, Tod den Schlechtverschleierten, den Krawattenträgern oder was gerade anstand. Schwenkte die Kamera weg, sanken die Fäuste, als wären sie mit einem Seilzug verbunden. Heute jedoch ist nicht nur die riesige Halle gefüllt, nicht nur der Campus der Universität Teheran, sondern sind es noch die umliegenden Straßen und Plätze. Den Gesichtern ist die freudige Erwartung von Fußballfans anzusehen, deren Mannschaft vor einem historischen Sieg steht. Wer sich noch keinen Platz aufdem Bürgersteig gesichert hat, beeilt sich bei der rituellen Waschung, für die Wasserwagen bereitstehen, als mache es einen Unterschied, ob man die Predigt einen oder zwei Straßenzüge entfernt verfolgt, die Männer unrasiert oder mit Bart, Plastikschlappen oder Schuhe mit runtergetretenen Fersen, damit die Füße bequemer rausschlüpfen können. Die Mode der Frauen variiert nur danach, ob sie sich den schwarzen Tschador vor die Nase halten, unter dem schwarzen Tschador zusätzlich ein schwarzes Kopftuch tragen oder beides. Das Durchschnittsalter dürfte dreißig Jahre über dem der Schweigenden liegen: Wer hierhin kommt, verteidigt die Revolution, für die er einst gekämpft hat, für die er in den Krieg gezogen ist, verteidigt die gefallenen Söhne oder Brüder, verteidigt seine eigene Biographie. Für die Funktionäre, an ihren einförmigen Anzügen, Bärten, Brillen und Frisuren sofort zu erkennen, mögen materielle Werte auf dem Spiel stehen; den älteren Männern, die weder reich geworden sind noch durch einen Regierungswechsel zu verarmen drohen, geht es um die geistigen Werte, die der Führer stets beschwört, weil der Westen sie vor zweihundert Jahren verloren habe. Ihnen hat die Islamische Revolution Würde verliehen, das Selbstbewußtsein, sich vor niemandem mehr zu ducken. Ihre Kinder allerdings fehlen. Vielleicht sind sie unpolitisch wie der Mobilfunkhändler, denen der Präsident nur imponiert; genauso könnten sie zu den Studenten gehören, die gegen ihn revoltieren.
Als das Programm mit einem Einpeitscher beginnt, der zehn Minuten lang die üblichen Parolen variiert, bin ich der einzige, der nicht die Faust hebt.
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