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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Kühlkammern kein Platz mehr ist.
Das Fest des Heiligen Elian
    Mit dem Photographen Kai Wiedenhöfer fahre ich zum Fest des Heiligen Elian in die Kleinstadt Qaryatein, zwei Stunden nördlich von Damaskus. Gewöhnlich wird das Fest von Christen aus dem ganzen Land besucht, dieses Jahr jedoch ist nur die eigene Gemeinde gekommen, die auf den Bänken der kleinen, über tausend Jahre alten Kirche Platz findet, die Männer in Bundfaltenhosen und kurzärmligen Hemden, die Frauen in knielangen Röcken, die Jugendlichenmit viel Gel in den Haaren, die Kinder mit Glitzer auf den Kleidern. Der Gottesdienst besteht fast ausschließlich aus Liedern und gesungenen Gebeten, die nicht viel anders als Koranrezitationen klingen; beim Vaterunser breiten die Gläubigen die Hände mit den Handflächen nach oben aus wie Muslime bei der Fatiha, und für die Eucharistie knien sich die langbärtigen Mönche hin, um mit der Stirn den Boden zu berühren. Für die Bibellesung hat der Priester sicher nicht zufällig die Befreiung des Volkes Israel aus der Tyrannei des Pharaos ausgewählt. Er gehört dem Kloster Mar Musa an, das von der Regierung wie von der Amtskirche kritisch beäugt wird, weil der italienische Ordensgründer Paolo Dall’Oglio öffentlich über die Gewalt der Regierungsmilizen gesprochen und zum Dialog mit der Opposition aufgerufen hat. Seit er des Landes verwiesen wurde, leitet ein Syrer den Orden, Vater Jacques, der sich mit kritischen Worten allerdings ebensowenig zurückhält.
    Nach dem Gottesdienst nimmt Vater Jacques mich mit in sein karges Büro, das zugleich Unterkunft ist. Die Amtskirche in Syrien, kommt er ohne Umschweife auf die Lage im Land zu sprechen, mache den gleichen Fehler wie im Irak, wo sie sich aus Angst vor den Islamisten eindeutig auf Seiten der Regierung positioniere. Wenn sie schon nicht über die Unterdrückung reden wolle, sollte sich die Kirche wenigstens neutral verhalten, sonst werde sie später in Haftung genommen. Leider seien auch in den Gemeinden selbst, vor allem den ländlichen Gemeinden, die Christen von der Furcht beseelt, in einem revolutionären Syrien keinen Platz mehr zu haben. Zwar gebe es viele junge Christen, die in den Gefängnissen säßen, aber gerade auf dem Land kennten viele Gemeindemitglieder ihre eigene Geschichte nicht, hielten den Islam für einen Albtraum und merkten nicht, wie fundamentalistisch sie inzwischen selbst geworden seien.
    Ich frage, ob die syrischen Christen nicht allen Grund hätten, sich zu fürchten, wenn sie das Schicksal ihrer irakischen Glaubensbrüder sähen.
    – Nicht nur wir Christen, die Syrier stehen vor dem Eingang zur Hölle. Aber doch nicht, weil die Menschen in Freiheit leben wollen,sondern weil auf ihr berechtigtes Anliegen mit Gewalt reagiert wird.
    – Und wenn aus Syrien am Ende also ein zweiter Irak würde?
    – Dann würde es wohl einen Exodus geben, sagt Vater Jacques, um sofort zu betonen, daß die Christen in sehr viel höherem Maße in die syrische Gesellschaft integriert seien als im Irak oder auch in Ägypten. Außerdem übe der Fundamentalismus im Vergleich zu anderen arabischen Ländern nur eine geringe Wirkung auf den syrischen Islam aus. Vor Ort käme der Orden mit den Muslimen jedenfalls besser zurecht als mit manchen Christen.
    Ich frage Vater Jacques, was er von der Forderung mancher europäischer Politiker hält, aus Syrien ausschließlich christliche Flüchtlinge aufzunehmen.
    – Diese europäischen Politiker sollten lieber alles dafür tun, damit überhaupt niemand aus Syrien fliehen muß, statt mit ihren unverantwortlichen Äußerungen genau jenen Konfessionalismus zu befördern, der uns bedroht. Wir Christen gehören zu diesem Land, auch wenn das die Fundamentalisten weder bei uns noch in Europa gern hören. Die arabische Kultur ist unsere Kultur!
    Fünfmal ist das Kloster Mar Musa überfallen worden, von Kriminellen wohlgemerkt, nicht von Islamisten, fünfmal, obwohl es schon beim ersten Überfall kaum etwas zu stehlen gab. Nein, sagt eine Nonne leise, sie hätten nicht das Gefühl, daß die Regierung sie beschützen wolle. Eher fühlten sie das Gegenteil.
Am Grabe von Ibn Arabi
    Wenn es im Islam eine Theologie des Pluralismus gibt, dann hat sie im dreizehnten Jahrhundert der Mystiker Ibn Arabi geprägt, der «Größte Meister» wird er bis heute genannt,
asch-Schaych al-akbar
. In einem seiner berühmtesten Gedichte heißt es:
    Mein Herz kann jede Form annehmen
,
    Für Gazellen eine Weide, für Mönche ein

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