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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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auf eine jüdische Siedlung zu stoßen. Und das soll einmal Palästina werden? Die israelische Linke unterstützt Scharons Rückzug aus Gaza, nicht weil sie seine eigentlichen Ziele übersieht, sondern weil sie hofft, daß die Aufgabe der Siedlungen eine Dynamik des Friedens freisetzt, die zum Rückzug auch aus der Westbank führen könnte. Scharon wäre der Geist, der das Böse will und das Gute schafft. Leider erscheint das aus Sicht der Palästinenser so realistisch wie Faust II.
    Daß die palästinensischen Widerstandsgruppen seit dem Ende der zweiten Intifada im Februar 2005 auf Anschläge weitgehend verzichten, scheint keiner Einsicht, sondern der schieren Erschöpfung ihrer Gesellschaft geschuldet zu sein. Ich bin in der einen Woche kaum einem Palästinenser begegnet, der in seiner Familie keine Opfer zu beklagen hat – und keiner der Toten hatte sich selbst in die Luft gesprengt. Zugleich hat sich die Lebenssituation seit der ersten Intifada kontinuierlich verschlechtert. Die Palästinenser haben sich mit aller Macht aufgebäumt und sind jetzt umso elender in sich zusammengesackt. Hamas und Dschihad sammeln ihre Kräfte und konzentrieren sich einstweilen darauf, ihren Einfluß Tag für Tag zu erweitern. Es ist nicht lange her, da galten die Palästinenser als die weltoffenste und demokratischste Gesellschaft unter den Arabern, mit dem höchsten Anteil von Frauen in Führungspositionen. Jetzt breitet sich unter ihnen ein religiöser Dogmatismus aus, wie ich ihn in diesem Ausmaß nicht einmal aus Iran kenne. Das Bürgertum verarmt oder wandert aus. Vor allem die Christen, die der Gesellschaft immer ihren Stempel aufgedrückt haben, resignieren. Das säkulare Palästina hat sich auf zwei, drei Inseln zurückgezogen, nach Ramallah, Bethlehem, Ost-Jerusalem. Schon in Nablus und Hebron beherrscht die Hamas das Straßenbild. Und das Riesengefängnis Gaza, einen der wohl trostlosesten Flecken der Erde, haben die Islamisten bereits übernommen. Cafés, Frauen ohne Kopftuch, Alkohol – alles verboten, wenn nicht durch Gesetze,dann durch den Druck einer Öffentlichkeit, die sich von Tag zu Tag an Frömmigkeit überbietet.
    Wer will es den Palästinensern verdenken, daß sie den Islamisten in die Arme laufen, bietet die Hamas ihnen mit ihrem karitativen Netzwerk und den Ideen frommer Brüderlichkeit doch ein Mindestmaß an Versorgung, das zu leisten die Autonomiebehörde nicht imstande ist. Die israelische Regierung beklagt seit langem, auf palästinensischer Seite keinen Partner für den Frieden zu haben. Bald ist es vollbracht, daß man nicht einmal widersprechen kann. Wahrscheinlich muß auch die Westbank erst so weit herunterkommen wie der Gaza-Streifen, bevor die Verhältnisse mit einem sogenannten Friedensvertrag im Sinne der israelischen Rechten zementiert werden: ein Groß-Israel mit einigen palästinensischen Protektoraten. Ob man die dann Staat nennt, ist ohnehin nicht so wichtig. Hauptsache, sie sind eingemauert. Ariel Scharon hat den Israelis zu verstehen gegeben, die Palästinenser seien Terroristen, die man wegsperren müsse wie Tiere. Er hat die Palästinenser kollektiv behandelt wie Extremisten. Nun gleicht sich die palästinensische Gesellschaft allmählich dem Bild an, das die israelische Rechte seit Jahren von ihr zeichnet. Ihr humanes Antlitz droht sich aufzulösen, und damit auch die Grundlagen für einen friedlichen Ausgleich, der doch vor vier, fünf Jahren so greifbar schien. In Gaza ist es jetzt schon schwierig, darüber zu sprechen, wie eine Versöhnung einmal aussehen könnte. Es läßt sich überhaupt nicht mehr diskutieren. Die Opfer-Geschichten, die jedem Gesprächspartner auf dem Herzen brennen, ersticken jede Diskussion und jeden Versuch, Verständnis zu wecken für die andere Seite, die anderen Opfer. Ich kann mich nicht erinnern, jemals aus einem Land so deprimiert zurückgekehrt zu sein. War es ein Land? Palästina war es nicht.
    So zynisch er ist, aber der Gedanke kam mir während der Reise immer öfter: Im Vergleich zur Gegenwart wäre Eretz Israel vielleicht doch keine so schlechte Option. Wenn ein jüdischer Einheitsstaat der Plan ist, sollen ihn die Israelis wenigstens schnell umsetzen, damit der Schrecken ein Ende hat und die Palästinenser sich an ihr Schicksal so gewöhnen können, wie es die israelischen Araberschon getan haben. Man kann sich in der Unterwerfung durchaus einrichten, wenn sie ein Mindestmaß an Kommodität bietet. Ihre eigenen Araber behandeln die Israelis

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