Ausnahmezustand
Intensivstation, die einmal aus vier Betten mit den dazugehörigen Apparaten bestand. Die Bettgestelle mit den hochgestellten Rückenlehnen sind noch vorhanden, auch die Gehäuse der Apparate. Die Ärztin muß uns nicht darauf hinweisen, wir sehen es selbst: An drei der Rückenlehnen, genau in Höhe der Köpfe, befinden sich die Einschußlöcher von zahlreichen Kugeln, die durch das Bettgestell gingen und in der Wand steckengelieben sind, sowohl von Pistolen als auch von Gewehren, Kalaschnikows, um genau zu sein. Unter den Betten, ebenfalls in Kopfhöhe, sind die Blutlachen getrocknet. Es gibt keine anderen Einschußlöcher in dem Raum, es ist nicht gekämpft worden. Die Schüsse zielten einzig und allein auf die drei Rückenlehnen in Höhe der Köpfe. Nur an einer einzigen anderen Stelle sehen wir die Kugeln in der Wand und das getrocknete Blut auf dem Boden. Hier muß der Pfleger gestanden haben.
Kann die Situation gestellt gewesen sein? Wir kamen zufällig an dem Krankenhaus vorbei, kein Mensch konnte mit unserem Besuch in dem abgesperrten Gebiet gerechnet haben. Erkennbar hatten die Ärzte, Schwestern und Pfleger gerade erst mit den Aufräumarbeitenbegonnen. Und der Schock, der ihnen ins Gesicht geschrieben stand, wirkte erst recht nicht gespielt.
– Dürfen wir berichten, dürfen wir auch von der Intensivstation Photos machen? frage ich noch einmal.
– Ich muß den Direktor fragen, sagt die Ärztin, die in ihrer Nervosität niemanden findet, zu dem sie sich fragend umschauen kann.
– Er kommt, sagt sie, als sie mit dem Direktor telefoniert hat. Doch der Krankenhausdirektor kommt auch nach dem zweiten Anruf nicht. Als die Ärztin zum dritten Mal angerufen hat, seufzt sie, er käme doch nicht: Ihm sei gesagt worden, daß sie alle tot seien, wenn von der Intensivstation jemand erführe. Die Ärztin berät sich mit ihren Kollegen, die in den Raum getreten sind, und erteilt am Ende Kai die Erlaubnis, auch von den Rückenlehnen Photos zu machen.
– Es wird einmal ein Gericht geben, vor dem Beweise vorzulegen sind, erkläre ich.
– So Gott will, ist es nicht erst das Jüngste Gericht, sagt die Ärztin.
Kai hat die Photos nicht veröffentlicht, und an der Beschreibung des Ortes habe ich einige Details so verändert, daß das Krankenhaus nicht auf Anhieb zu identifizieren ist. Die genauen Angaben mitsamt den Bildern haben wir einer geeigneten Institution übergeben. Daß ich überhaupt davon schreibe, mag dadurch gerechtfertigt sein, daß Menschenrechtsorganisationen zahlreiche Berichte über beschossene, gestürmte, angezündete Krankenhäuser gesammelt haben, auch über Patienten, die im Krankenbett erschossen wurden. Aber der Leser wird mir glauben, daß es ein Unterschied ist, ob man davon liest oder die Rückenlehnen mit eigenen Augen sieht.
Wer lesen kann, der lese
Auch in Homs besichtigen wir zwei der Stadtteile, in denen der Krieg getobt hat. Allerdings werden wir hier von Soldaten sowie von Mitarbeitern verschiedener Behörden begleitet, keinen Apparatschiks, sondern drei jungen, ebenso neugierigen wie sympathischenLeuten in Jeans, die auf der Fahrt von Damaskus gute arabische und westliche Musik hörten. Abgesehen von den Verwüstungen, die sehr ähnlich sind, finden wir eine große Leiter mit Strick, die von den Rebellen als Galgen benutzt worden sein soll, in einem Klo außerdem ein gußeisernes Wasserbecken mit einem offenen Stromkabel darin, von der Decke herabhängend eine Schnur zum Festbinden der Hände. Allerdings ist an dem Besuch nichts zufällig oder unerwartet, und auch bei den Gesprächen mit der sogenannten Bevölkerung sind wir von Soldaten umringt. Damit ich ungestört reden könne, gingen sie gern mit den Soldaten ein Stück weiter, sagen die Begleiter und verstehen nicht, daß der Informationsgehalt des Gespräches dennoch gering wäre. Ziemlich hilflos versuchte ich mir ein Bild zu machen: Der Galgen und das Becken für die elektrischen Schläge mögen eine Attrappe sein, aber wenn alles nur eine Show ist, warum stellen sich dann die Waffen als so mickrig heraus, die die ausländische Unterstützung der Rebellen belegen sollen, eine Dynamitkiste, die offenkundig aus den Beständen der Nationalen Armee stammt, oder ein selbstgebautes Katapult mit einer Spiralfeder, die aus einem Lastwagen oder einer Industrieanlage herausmontiert worden sein mag. Auch die Kirche, in die wir geführt werden, ist zur Überraschung unserer Begleiter keineswegs geschändet, sondern von einem Geschoß
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