Ausradiert: Thriller (German Edition)
Gedanken, die sich direkt unter der Oberfläche krümmten?
»Donald Sutherland hat einen Rückzieher gemacht«, erklärte Nick. Er drehte die Fotos um und legte sie auf den Tisch. Als Nächstes folgten die Bilder des Gerichtsmediziners von Opfer Nummer eins, Janet Cody.
»Mist, die Erste«, sagte Tommy. »Lebten sie noch, als er ihnen diesen Scheiß angetan hat?«
»Nein.«
»Aber warum dann?«, fragte Tommy. »Was sollte es denn dann?«
»Das weiß man nicht wirklich«, erwiderte Nick. »Er hat nie gestanden.«
Nick ging den Inhalt der Tasche durch, entdeckte einen Ordner mit dem Stempel »Dr. Philippa Myers, Fachbereich Psychologie, UCLA« auf dem Deckblatt. Er schlug ihn auf und begann zu lesen. Tommy entfernte sich.
»Das riecht gut«, bemerkte er.
Nick schaute auf. Tommy stand vor seinem Frühstücksteller auf dem Tresen.
»Wollen Sie das wegwerfen?«, fragte er.
»Bedienen Sie sich«, sagte Nick.
Tommy nahm Nicks Teller. »Ich mache ein kleines Picknick«, verkündete er auf dem Weg zur Hintertür. Er bemerkte, dass sich ein Stück des Paketbands über der zerbrochenen Scheibe gelöst hatte, und drückte es fest. Dann steckte er einen Streifen Speck in den Mund, sagte: »Mmm«, und ging nach draußen.
Dr. Myers hatte sich im Auftrag des Staates mit den Aufzeichnungen über Gerald Reasoner beschäftigt und ihn zweimal befragt, insgesamt vier Stunden lang. Sie schrieb über Reasoners Vater und Mutter, beide unangenehm, aber beide innerhalb normaler menschlicher Grenzen; über seine Schulzeit, unauffällig; seine Freundinnen, nicht existent; seinen allgemeinen Freundeskreis, ebenfalls nicht existent; sein Interesse an Sadomaso-Pornographie, sporadisch; sein Vertrauen in die eigene Intelligenz, unerschütterlich. Worte wie Infantilismus, gehemmt, narzisstisch, kontrolliert und unausgeglichen tauchten immer wieder auf. Hass auf Frauen, das wusste Nick. Angst vor einem Geheimnis, das tief in ihm verschlossen war: Er glaubte, dass er auch das schon gewusst hatte. Unverständnis und Frustration, weil er es in der Welt nicht weit gebracht hatte, das auch. Aber erklärte das, was Reasoner getan hatte? Es war eher so, dass es mit dem übereinstimmte, was er getan hatte, in der Art, wie der moderne Mensch und der Neandertaler einen gemeinsamen Vorfahren besaßen. Und von einem ungesunden Interesse an Jungen, Kindesmissbrauch, Pädophilie kein einziges Wort.
Nick sah aus dem Fenster. Tommy saß in der Sonne, den Teller auf dem Schoß, der so sauber glänzte, als hätte er ihn abgeleckt. Nick kramte in der Aktentasche, zog die Autopsiefotos von Lara Deems heraus. Das Gesicht: Wie gut er sich aus irgendeinem Grund daran erinnern konnte, besonders an diese vollen, sinnlichen Lippen. Nick starrte auf das tote Gesicht von Lara Deems. Hatte er sie jemals wirklich gesehen oder nur die Fotos? Er müsste sich eigentlich mühelos erinnern können, aber momentan gelang es ihm nicht. Die andere Sache, an die er sich erinnern musste – was Rui Deej erzählt hatte –, vermischte sich ständig mit seinen Erinnerungen an Lara Deems’ Gesicht, wie zwei Sender, die die gleiche Frequenz nutzten, wenn man an der Grenze der Sendebereiche entlangfuhr.
Reasoner hatte Lara Deems’ Gesicht nicht angetastet, seine Operation auf einen der Unterarme und hier auf einen kleinen Bereich beschränkt. Nick starrte auf Lara Deems’ Gesicht. Diese Lippen. Vertraut. Weil er am Tatort gewesen war? Die Bilder gesehen hatte? Oder aus einem anderen Grund?
Nick ging die Akten durch, untersuchte die Aufnahmen der Leiche jedes einzelnen Opfers. Reasoner hatte an allen übrigen Frauen wesentlich ausführlicher gearbeitet als an Lara Deems, bei dreien von ihnen eine vollständige Torsoöffnung vorgenommen und unterhalb von Tiffany LeVasseurs Taille riesige Schnitte angesetzt, vor deren Anblick Nick zurückschreckte. Vielleicht hatte sich das, was Reasoner antrieb, nach der erst vierundzwanzig Stunden vorher erfolgten Ermordung Nicolette Levys noch nicht völlig regeneriert, stand er nicht so unter Druck. Doch wenn der Drang nicht so übermächtig gewesen war, warum hatte er sie dann überhaupt ermordet?
Nick las alles, was über den Mord an Lara Deems vorhanden war. Die Beschreibung der Wohnung in Santa Monica: zwei Zimmer im ersten Stock, L-förmig. Anzeichen für gewaltsames Eindringen: keine. Anzeichen für einen Kampf: viele, einschließlich der zerschmetterten Imitation einer griechischen Vase und eines umgestürzten Küchenstuhls aus
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