Ausradiert: Thriller (German Edition)
ich nie die Tür auf und gehe nie ans Telefon.« Sie warf einen Blick auf die Tür.
»Wie lange wohnst du schon hier, Cassie?«
»Lange.«
»Bist du in diesem Haus geboren worden?«
»Im Krankenhaus, du Dummie.«
»In welchem Krankenhaus?«
»Im Massachusetts General Hospital.«
»In Boston?«
»Ich bin ein Bostoner Böhnchen.«
»Weißt du, wer vor dir in diesem Haus gewohnt hat?«
»Armenier.«
»Hast du schon mal von Gerald Reasoner gehört?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder von Rui Estrella?«
Cassie steckte den Daumen in den Mund.
»Du kennst Rui?«
Sie sprach um den Daumen herum, unverständlich.
»Ich kann dich nicht verstehen.«
Cassie verstummte, nuckelte einfach am Daumen, den Bauch herausgereckt, die Füße nach außen gedreht. Bei der Vorstellung von ihr und Gerald Reasoner im selben Haus, selbst zu verschiedenen Zeiten, wurde ihm übel.
»Weißt du, wie du deine Mami bei der Arbeit erreichen kannst?«, fragte Petrov.
Cassie zog den Daumen aus dem Mund. »Kurzwahl eins«, sagte sie.
»Zeig’s mir«, sagte Petrov. Er betrat das Haus und schloss die Tür hinter sich. Cassie führte ihn einen Flur hinunter in die Küche an der Rückseite: kein Geschirr in der Spüle, fleckenloser Boden, alles sauber und ordentlich. Durch das Fenster konnte er das Planschbecken sehen, den Maschendrahtzaun, die Rückseite der 1491 Rosetta Street mit dem breiten Riss in der verputzten Mauer.
Das Telefon lag auf dem Küchentisch. Cassie kletterte auf einen Stuhl.
»Drück auf diesen Knopf«, sagte sie. »Die Zahl heißt eins. Ich kann bis zehn Millionen zählen.«
»Wie heißt du mit Nachnamen, Cassie?«
»DiPardo. Und du?«
»Petrov.«
»Den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Ich hab DiPardo noch nie gehört.« Er nahm das Telefon und drückte die Eins im Kurzwahlverzeichnis.
Eine Frau meldete sich beim ersten Klingeln. »Stephanie DiPardo«, sagte sie.
»Hier spricht Nick Petrov. Ich bin Privatdetektiv und suche einen Ihrer Nachbarn, Rui Estrella.«
»Ich weiß eigentlich gar nichts über ihn«, sagte Stephanie DiPardo. »Und ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen – ich arbeite.«
»Sie sollten lieber nach Hause kommen.«
»Wie bitte?«
»Ich stehe in diesem Moment mit Cassie zusammen in Ihrer Küche.« Er hörte ein kurzes Keuchen. »Es geht ihr prima, aber sie ist zu jung, um allein zu bleiben, was Sie ja auch ohne mich wissen. Ich warte, bis Sie hier sind.« Er legte auf. »Deine Mami kommt nach Hause«, sagte er.
»Aber ich bin jetzt hungrig.«
»Was hättest du denn gern?«
»Überbackenes Käsesandwich.«
Petrov machte ein überbackenes Käsesandwich und stellte es auf den Tisch.
»Meine Mami macht die aber anders«, sagte Cassie.
»Das ist Goofys Geheimrezept«, erwiderte Petrov. »Milch oder Saft?«
»Saft.«
»Wann hast du zum letzten Mal Milch getrunken?«
»Gestern.«
»Dann Milch.«
Petrov goss ihr ein Glas Milch ein, zog ein paar Schubladen auf, fand ein Fläschchen Ibuprofen, schluckte vier. Er setzte sich an den Tisch, mit dem Gesicht zum Fenster. Cassie biss von ihrem Sandwich ab. Sie aß es schweigend auf, verputzte jeden Krümel, trank ihr Glas leer. Petrov glaubte hören zu können, wie die Milch ihren Hals hinunterrann. Die Zeit stand auf friedliche Weise still.
»Jetzt lies mir was vor«, forderte Cassie.
»Okay.«
»Wie wär’s mit Babar und Celeste? «
»Was anderes.«
» Aber das weiß nur der Fuchs. «
»Klar.«
Im selben Moment, in dem Cassie die Küche verließ, explodierte in seinem Schädel eine weitere kleine Bombe. Petrov rieb sich wie wild die Stirn in dem Versuch, alles dort drin auf die Reihe zu bekommen. Seine Sicht wurde rot an den Rändern, verschwamm im Zentrum. Fast hätte er die Zigarette nicht gesehen, die aus der Hintertür von 1491 Rosetta Street flog, war aber auf den Beinen, ehe die Tür sich schloss.
Petrov rüttelte am Türknauf. Von der anderen Seite hörte man ein Wimmern. Er trat das Sperrholz aus dem Fensterrahmen, langte hindurch und entriegelte die Tür. In dem düsteren Zimmer auf der anderen Seite stand eine alte Frau, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet wie eine europäische Bäuerin.
»Wo ist Rui?«, fragte Petrov.
Sie rang die Hände. Er trat ein. Noch immer die Hände ringend verstellte sie ihm den Weg. Petrov schob sich an ihr vorbei, ging durch das düstere Zimmer, dann durch ein weiteres. Keine Klimaanlage. Es war wie in einer Gießerei, nur ohne den Lichtschein von der Feuerstelle. Von irgendwo unten
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