Ausradiert: Thriller (German Edition)
in jenen Augen. Das hatte nichts mit den ganzen Tabellen zu tun, die Nick im Verlauf seiner Karriere angelegt hatte, den von eins bis dreiundneunzig durchnumerierten Gesichtsausdrücken. Es entzog sich vollständig jeder rationalen Analyse, war eher eine neue Art zu sehen, ein nagelneuer Sinn. Er schloss die Lider.
»Müde?«, erkundigte sich Dr. Tully. »Soll ich später wiederkommen?«
Nick schüttelte den Kopf. Vergessen, wie lange hatte es gedauert? Wie viele Stunden waren zwischen seinem Eid vor Gericht und der Einlieferung ins Krankenhaus vergangen? »Um welche Uhrzeit wurde ich aufgenommen?«, fragte er.
Er hörte Dr. Tully blättern. »Sechzehn Uhr achtundfünfzig«, antwortete er. Seine Stimme wurde sanfter. »Am Sonntag, dem vierzehnten.«
Nicht Stunden, zwei Tage, ein ganzes Wochenende: weg. Was war zwischen dem Schwur, die Wahrheit zu sagen, und dem Wackeln mit den Zehen passiert? Nick hatte keine Ahnung. Aus irgendeinem Grund ängstigte ihn das mehr als alles andere. Er schlug die Augen auf.
Dr. Tully erhob sich. »Die gute Nachricht lautet, dass wir heute die Schläuche entfernen.«
Nick fragte nicht nach der schlechten Nachricht. »Und dann kann ich nach Hause?«
»Bald, Donnerstag vermutlich. Vorher müssen wir über die Behandlungsmöglichkeiten reden.«
»Welcher Tag ist heute?«, fragte Nick.
»Dienstag.« Ungefähr das, was Nick erwartet hatte, bis Dr. Tully hinzufügte: »Der dreiundzwanzigste.«
11
G lioblastoma multiforme«, sagte Dr. Tully, während er sich einen Stuhl ans Bett zog. »Wissen Sie, was das ist?«
Nick setzte sich kerzengerade auf, demonstrierte, wie viel kräftiger er geworden war, für den Fall, dass Dr. Tully seine Fortschritte anzweifelte, und streckte ihm die rechte Hand zur Begrüßung entgegen. Strecken war vielleicht eine leichte Übertreibung, aber seine Hand war dort draußen und ein Stück über der Decke. Dr. Tully drückte sie. Nick erwiderte den Druck, legte alles hinein, was er hatte. »Eine Art Hirnkrebs«, erwiderte er.
Nicks Hand haltend nickte Dr. Tully. »Ich habe festgestellt, wie wichtig es ist, offen mit den Tatsachen umzugehen«, sagte er. »Wir haben ein graduelles System zur Beurteilung der Bösartigkeit von primären Hirntumoren wie GBM. Es beruht auf der mikroskopischen Analyse der Zellform, der Diffusion und –«
»Wie kommt es, dass Grad IV der schlimmste ist?«, fragte Nick, seine Stimmung wechselte rasch. »Warum nicht Grad I? Das ist irreführend.« Er zog seine Hand zurück. Sie fiel auf die Decke.
Der Ausdruck in Dr. Tullys Augen änderte sich; nur wenig, aber Nicks neuer Sinn schaltete sich wieder ein, und er entzifferte Dr. Tully mühelos: Der Patient reagiert zornig, vorhersehbar, angemessen. »Wie ich höre, haben Sie einen Blick in Ihre Kurve geworfen«, bemerkte Dr. Tully.
»Mein Name steht drauf«, sagte Nick.
»Aber diese ganzen Informationen können ohne jeden Kontext ziemlich beunruhigend sein.«
»Dann geben Sie mir Kontext«, sagte Nick.
Dr. Tully legte die Fingerspitzen aneinander; eine Geste, die Nick zunächst für nachdenklich hielt, dann aber plötzlich merkte, dass sie auch eine Gebetshaltung sein mochte.
»Beginnen Sie mit den siebzehn Wochen«, sagte Nick.
»Das ist der mittlere Wert«, erklärte Dr. Tully. »Jeder Fall – jeder Mensch – ist anders. Sie sind in guter körperlicher Verfassung, vergleichsweise jung, ein vielversprechender Kandidat für einige der Waffen, die wir heute haben.«
»Was für Waffen?«
»Zunächst einmal die Chemo«, sagte Dr. Tully. »Traditionell wegen der Blut-Hirn-Schranke von geringem Nutzen, aber wir haben in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt. In Ihrem Fall haben wir mit der interstitiellen Chemotherapie begonnen. Das ist einfach ein Begriff für Siliziumscheiben, die mit einem krebsbekämpfenden Medikament namens Carmustin präpariert und in der Operationsöffnung plaziert werden.«
»Ich bekomme bereits Chemo?«
»Seit der Operation«, bestätigte Dr. Tully.
»Ich habe Siliziumscheiben im Hirn?«
Dr. Tully griff in seine Tasche und reichte ihm eine dünne, centstückgroße Scheibe, die sich wie Kandiszucker anfühlte.
»Wie viele?«, fragte Nick.
»Sieben oder acht«, erwiderte Dr. Tully.
»Wie viele exakt?«, fragte Nick.
»Da müsste ich erst den Bericht lesen«, sagte Dr. Tully. »Anfälle von Übelkeit, Blutungen, Schmerzen?«
»Nein.«
»Und der Haarausfall ist ungeklärt, weil wir Sie für die OP sowieso rasieren
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