Ausradiert: Thriller (German Edition)
mussten.«
Darüber lachten sie gemeinsam. Dr. Tully besaß dichtes, welliges braunes Haar, das an den Seiten nach hinten gekämmt war.
»Und was weitere mögliche Nebenwirkungen betrifft«, fuhr er fort, »sind die Risiken nicht höher als bei der Operation selbst.«
Nick, der noch immer ein wenig lachte, verstummte. Er versuchte den Sinn der letzten Neuigkeit zu ergründen und konnte es nicht.
Dr. Tully rieb sich die Hände. »Jetzt würde ich die Überreste des Tumors gern stereotaktischer Bestrahlung aussetzen. Sie ermöglicht uns eine bis dato nie gekannte Präzision und minimiert das Risiko, gesundes Gewebe zu beschädigen.«
»Gesundes Hirngewebe?«
»Ganz genau. Das war immer einer der großen Vorbehalte gegen Bestrahlung, die Beeinträchtigung der Hirnfunktionen.«
»Welche Hirnfunktionen?«
»Das variiert – Sprache, Denken, Erinnerung, suchen Sie sich was aus.«
»Und diese Stereosache« – all die neuen Wörter trieben davon – »verhindert das?«
»Nichts ist hundertprozentig.«
»Und hinterher?«
»Hinterher?«
»Wie viele zusätzliche Wochen habe ich dann?«
»Das kann man nicht sagen«, erwiderte Dr. Tully. »Die Bandbreite unterschiedlicher Überlebensraten ist groß.«
»Wie lang ist die längste?«
»Ich habe schon erstaunliche Dinge erlebt«, sagte Dr. Tully. »Sogar Jahre.«
»Und die kürzeste?«
»Die haben Sie bereits hinter sich.« Dr. Tullys Pieper ertönte. Er warf einen Blick drauf, stand auf. »Keine Eile«, sagte er. »Aber meine Empfehlung lautet Stereotaxie zusätzlich zur interstitiellen Chemo, mit monoklonalen Antikörpern in Reserve, nur für den Fall.«
»Für welchen Fall?«
»Für den Fall, dass die Ergebnisse enttäuschen.«
Nick sah auf seine Hände hinunter, so blass. Der Tropf war fort, aber sie hatten die Kanüle dringelassen, ebenfalls »nur für den Fall«. Blasse Hände, ein wenig anders als seine eigenen, als gehörten sie einem Bruder oder Cousin. Nick spürte Dr. Tullys Blick und hob den Kopf, um ihn zu erwidern. Er wusste, was er von Dr. Tully wollte. »Geben Sie mir etwas, worauf ich hoffen kann«, bat Nick.
»Das ist einfach«, sagte Dr. Tully. »Wir hoffen, dass die Behandlung gut anschlägt.«
Nick wischte die Antwort mit dem Rücken seiner rechten Hand zur Seite. Eine unvollständige Geste, von Anfang bis Ende nur wenige Zentimeter, aber es erinnerte ihn beinah an etwas: Er konnte spüren, wie die Erinnerung sich regte, außer Reichweite. »Ich brauche ein Ziel«, sagte er.
»Ein Ziel?«
Nick versuchte, die richtige Frage zu finden, eine, die Dr. Tully genauso verstand wie er. »Von allen Menschen, die aus demselben Grund wie ich hierhergekommen sind«, sagte er, »was war der längste Zeitraum, den jemand überlebt hat?«
»Das ist schwierig«, meinte Dr. Tully.
»Sechs Monate? Ein Jahr? Fünf Jahre? Zehn?« Er hörte seine Stimme: ein gereizter alter Mann.
»Eher im unteren Bereich«, antwortete Dr. Tully. »Aber wie ich schon sagte, jeder Patient – jeder Mensch – ist anders.« Sein Pieper meldete sich erneut.
»Wann muss ich mich entscheiden?«
»Wie wäre es mit morgen, im Laufe des Tages?«
Nick nickte. Dr. Tully lächelte, bevor er zur Tür hinausging, ein ermutigendes Lächeln, aber Nicks neuer Sinn, der nach anderen Dingen Ausschau hielt, nahm es nicht wahr. Er musste nicht bis morgen warten. Er traf seine Entscheidung hier und jetzt, auf der Grundlage dessen, was ihm erzählt worden war. »Ich bleibe bei den chemischen Scheiben«, rief er, aber Dr. Tully war bereits außer Hörweite.
Unter der Decke lag ein Gummiball, den Billie für ihn aufgetrieben hatte. Nick legte seine rechte Hand darum und begann zu pressen; auch wenn pressen eine leichte Übertreibung sein mochte. Er versuchte sich zu erinnern, wie groß er war, und als es ihm nicht gelang, hörte er auf, es zu versuchen, in der Hoffnung, dass ihm die Zahl einfach einfallen würde. Sie tat es nicht. Er presste wieder den Gummiball. Mit der linken Hand umklammerte er Dr. Tullys Scheibe.
Lärm im Flur. Nick öffnete die Augen. Tag. Licht strömte durch die halbgeöffneten Vorhänge, satte Streifen horizontalen Sonnenscheins. Nick starrte sie an; die Welt, in der er jetzt lebte, hatte ein anderes Licht: verschwommen, matt, schwach.
Draußen im Korridor sagte Billie: »Keine Ausnahmen.«
Eine andere Frau erwiderte: »Ich bleibe nur eine Minute. Er wird nichts dagegen haben.«
»Doch«, sagte Billie. »Sie können nicht –«
Eine Frau
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