Ausradiert: Thriller (German Edition)
für Nick. Eine andere Antwort: Er war nicht der Einzige. Nick starrte aus dem Fenster, sah die dichten Verkehrsströme in beide Richtungen fließen. Drängender, zielstrebiger, gesund wirkender Verkehr, aber wie viele der Menschen in den Autos litten ebenfalls an Krebs oder an anderen üblen Dingen? Wie lange war die durchschnittliche Überlebensrate dort draußen? Chaos und Ordnung existierten nebeneinander, als wären die Himmelskörper, die in ihren zeitlosen Umlaufbahnen kreisten, aus Würfeln geschaffen; Sonne, Mond, Erde, ein gewaltiges Sterben. Nicks Argumentation mochte wirr sein, aber diese Vorstellung eines riskanten Sonnensystems beruhigte ihn.
Dmitri schwenkte lässig auf die 405. »Zeig mir mal deinen Führerschein«, bat Nick.
Dmitri runzelte die Stirn. »Fahre ich so schlecht?«
»Du fährst verdammt gut«, sagte Nick. »Ich will mir nur mal das Foto ansehen.«
»Das ist furchtbar.«
»Das sind sie immer.«
Nick betrachtete das Automatenfoto seines Sohnes. Dmitri hatte der Kamera ein sehr ernstes Gesicht zugewandt. »Darf ich den kopieren?«
»Du willst ’ne Kopie von meinem Führerschein?«
»Ich habe einen Kopierer zu Hause.«
»Aber warum?«
Nick wusste eigentlich nicht warum. »Ich hätte einfach gern eine.«
»Tja dann.«
Dmitri fuhr in Nicks Einfahrt und parkte. Nick öffnete selbst die Tür, mit seiner linken Hand, stieg ganz allein aus, Einkaufstüte und Stock unter Kontrolle. Randy wartete an der Straße im Auto. Nick ging zu ihm hinüber, stützte sich mehr und mehr auf seinen Stock. Randys Fenster glitt hinunter.
»Danke für deine Hilfe«, sagte Nick.
»Ach, he«, meinte Randy. »Kathleen hatte keine Zeit – eine Konferenz in Phoenix. Und Nick? Es tut uns beiden leid, wie die Dinge beim letzten Mal gelaufen sind.«
»Welche Dinge?«
»Wir hätten uns alle ein bisschen besser benehmen können, einschließlich meiner werten Person.«
»Wann war das?«
Randy zwinkerte. Dmitri, der plötzlich neben ihm stand, sagte: »Seine Erinnerung kommt nur langsam zurück.« Dmitri sah Randy ungeduldig an, sein Blick verriet Nick, dass sie beide die Diagnose kannten. Respektieren Sie die ärztliche Schweigepflicht. Oder stirb!
»Tut mir leid«, sagte Randy.
»Keine Ursache«, erwiderte Nick, der anfing, über einige Dinge gründlicher nachzudenken – wie zum Beispiel über den Vorfall, den Randy gemeint hatte –, die man besser vergaß. »Klingt so, als ob …« Er brach ab, unfähig, den Satz zu beenden; schwerer, supergesättigter Schweiß perlte auf seiner Oberlippe.
»Wollen wir reingehen?«, fragte Dmitri.
Nick nickte. Sie gingen zur Haustür. Zwei kleine Stufen führten auf den Plattenweg, Stufen, die natürlich schon immer dort gewesen waren, und er erinnerte sich an sie. Nur ihre Bedeutung hatte sich verändert. Er hievte sich hoch, erreichte die Haustür. Dmitri schloss auf. Das Erste, was Nick sah, war Dmitris altes Fingerfarbenbild eines halslosen Jungen und eines struppigen Hundes mit riesiger roter Zunge. Aus dem Nichts tauchte der Name des Hundes auf: Buster. Es war gut, wieder zu Hause zu sein.
Nick wachte mitten in der Nacht auf, in seinem eigenen Bett, hörte die Geräusche seines eigenen Hauses, spürte dessen Atmosphäre. Einen Moment lang, vielleicht den Bruchteil einer Sekunde, vergaß er, was mit ihm geschehen war, und es hätte jeder wache Augenblick der letzten zehn Jahre sein können. Den Augenblick leben: eine hübsche Vorstellung, besonders, wenn man sich den Augenblick aussuchen und dort verweilen konnte. Seine Nähte kratzten am Kissen. Musste im Krankenhaus dasselbe gewesen sein, aber dort war es ihm nicht aufgefallen. Hier zu Hause war es sehr laut.
Nick stand auf, schaltete das Licht an. Die Probescheibe, die Dr. Tully ihm gegeben hatte, steckte in der Tasche seiner Anzughose. Nick schlug das Bettlaken zurück, knöpfte die Matratze ungefähr dort auf, wo sein Kopf im Schlaf liegen würde, und schob die Scheibe hinein. Carmustin: Der Name der Chemikalie fiel ihm wieder ein. Der Name gefiel ihm. Carmustin, ganze Kavallerien von Carmustin, die in einer Zangenbewegung von der Matratze aus und in seinem Kopf angriffen, das Glioblastoma abschossen, ihm seine eigene Medizin zu schmecken gaben.
Nick hob seinen Stock auf und ging in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank. Jemand hatte ihn mit Lebensmitteln gefüllt, aber er war nicht hungrig. An der Spüle trank er Wasser. Von dort konnte er sein Auto sehen, das in der Einfahrt parkte.
Nick
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