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Ausradiert: Thriller (German Edition)

Ausradiert: Thriller (German Edition)

Titel: Ausradiert: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Abrahams
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Nick lange an.

    Sie überquerten den Parkplatz. Die Sonne, die endlich auf Nicks Gesicht schien, wurde ihm zu viel. »Soll ich die Tasche nehmen?«, bot Dmitri an.
    »Es geht schon«, sagte Nick. Er entdeckte sein Auto, es war von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Dmitri zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, Nicks Schlüssel. Wann hatte er sie zuletzt gehabt? Ihm wurde klar, dass man Vorkehrungen für ihn getroffen hatte, was gut war, denn er selbst hatte nicht daran gedacht. »Fährst du mich nach Hause?«
    »Haben sie dir nichts gesagt?«
    »Doch. Sicher.« Das hatten sie bestimmt.
    Dmitri schloss die Beifahrertür auf, öffnete sie. Nick sah die Sachen auf dem Rücksitz. Einige wirkten vertraut: sein ledernes Notizbuch, die Straßenkarte, die CD mit dem Konzertmitschnitt von Jussi Bjoerling. Einige nicht: ein Volleyball, das Schwarzweißfoto einer Footballmannschaft, eine weitere CD mit dem Bild eines brennenden Picknickkorbs auf dem Cover – Empty Box: Retards Picnic. Er stieg in den Wagen, schaute geradeaus, die Einkaufstüte zwischen den Füßen. Auf seiner Oberlippe standen Schweißtropfen. Nick spürte sie aus irgendeinem Grund mit ungewöhnlicher Intensität, als wären sie wesentlich nasser und schwerer als normale Schweißtropfen, aber er war im Moment ein bisschen zu müde, um sie abzuwischen.
    Dmitri glitt hinter das Steuer. Nick fiel etwas ein. »Wann hast du den Führerschein gemacht?«
    »Letzten Juni«, antwortete Dmitri.
    »Meine Erinnerung kommt nur langsam wieder«, erklärte Nick.
    Dmitri schaute ihn flüchtig an, wandte den Blick ab.
    »Was hatte dieser Blick zu bedeuten?«, fragte Nick.
    »Du hast nicht gewusst, dass ich den Führerschein gemacht habe.«
    »Wie kommt das?«
    Ein kurzes Schweigen entstand. Dann sagte Dmitri: »Ich schätze, wir haben einfach nie darüber gesprochen.«
    Wie war das möglich? Wenn ein Kind den Führerschein machte, war das eine große Sache. Entweder handelte es sich um ein Erinnerungsproblem, Dmitri wollte ihm eine Demütigung ersparen, oder in ihrer Beziehung stimmte etwas nicht. Ganz plötzlich trieben Einzelheiten durch seinen Verstand, die Punkt zwei unterstützten. »Wie gut fährst du?«, erkundigte sich Nick.
    »Schnall dich lieber an«, sagte Dmitri.
    Nick lachte; aber er hatte einige Schwierigkeiten mit dem Gurt. Dmitri ließ den Wagen an. Er fuhr gar nicht schlecht, ein bisschen zu vorsichtig und ein bisschen zu aggressiv, beides zum falschen Zeitpunkt, aber er hatte den Wagen unter Kontrolle. Sie fuhren auf eine Schnellstraße. Nick wusste nicht genau, auf welche. Wie war die Strecke nach Hause? Das wusste er auch nicht mit Sicherheit. Die Karte weigerte sich, vor seinem inneren Auge Gestalt anzunehmen, stattdessen nahm ein Bild des Ozeans ihren Platz ein. »Kennst du den Weg?«, fragte Nick.
    »Hunderteins, vierhundertfünf, zehn«, antwortete Dmitri.
    Der junge Petrov, ganz genauso hätte er es gesagt. Nick wollte weinen. Er riss sich natürlich zusammen, aber es wären nicht nur Tränen der Trauer gewesen. Dies war größer: Vielleicht blieben ihm nur noch siebzehn Wochen, aber ein kleiner Teil von ihm würde fortdauern, wie die Klischees es versprachen. Selbst eine dumme alte Floskel wie die Fackel weiterreichen enthielt etwas Wahrheit.
    »Irgendwie ähneln sie Flüssen«, sagte Nick.
    »Flüssen?«, wiederholte Dmitri. »Das verstehe ich nicht.«
    Etwas Wahrheit, vielleicht nur sehr wenig. Und siebzehn Wochen war der Durchschnitt. Er hatte die Scheiben, die für ihn arbeiteten, eine mächtige Chemikalie absonderten – der Name war ihm momentan entfallen –, jede Krebszelle auslöschten, die drohte, ihr deformiertes Haupt zu erheben. Nick richtete sich auf, nahm Haltung an.

    Ein Wagen überholte. Der Fahrer winkte, und Dmitri winkte zurück.
    »Kennst du den Typ?«, fragte Nick.
    »Randy«, erwiderte Dmitri. »So bin ich zum Krankenhaus gekommen. Er nimmt mich nachher mit zurück nach Hause.«
    Randy: Softwaretyp. Kathleens Ehemann. Er sah anders aus, fast cool in Hollywoodmanier, mit umlaufender Sonnenbrille und nach hinten gegeltem Haar; lang und voll genug, um nach hinten gegelt zu werden. In Nicks Verstand nagte eine erbärmliche Frage, ein zersetzendes leises Wimmern, das er nicht hören wollte. Zwei Worte: Warum ich? Er hasste diese Frage, aber eine Antwort wäre trotzdem nett gewesen. Eine mögliche Antwort – ein Gott mit unerfindlichen Wegen – ging an der eigentlichen Frage vorbei und barg keinen Trost, zumindest nicht

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