Außer Atem - Panic Snap
Zwillingsschwester.
26
»Ich gehe spazieren«, sage ich. Mrs. McGuane hat vor über einer Stunde gefrühstückt, doch sie sitzt noch immer am Küchentisch und liest eines von Ginas Gedichten. Am Tag der Beerdigung hat sie sie alle aus Ginas Haus geholt. Gina hat die Gedichte jeweils auf ein separates Blatt getippt und alle in großen braunen Kuverts auf ihrem Schreibtisch aufbewahrt. Ich habe sie vor ein paar Tagen gelesen, als Mrs. McGuane geschlafen hat. Die Gedichte haben mich an James' Bilder erinnert: Sie sind düster, trostlos, voller Gewalt. Ich dachte, sie hätte vielleicht auch über mich etwas geschrieben, doch das hat sie nicht. Ich werde nicht einmal erwähnt.
»Wollen Sie nicht mitkommen?«, frage ich.
Sie schaut von dem Blatt Papier auf und denkt einen Moment lang nach. Ihr weißes Haar liegt wie ein Helm flach um ihren Kopf, und die runde Stahllesebrille verleiht ihr ein eulenartiges Aussehen.
»Nein«, sagt sie schließlich und scheucht mich mit einer Bewegung ihrer zitternden Hand davon. Ihr Nagellack, auf den sie einst so sorgfältig geachtet hat, ist zersplittert und blättert ab. »Gehen Sie ruhig ohne mich, meine Liebe«, sagt sie und neigt sich wieder über das Gedicht.
Seit Ginas Tod sitzt Mrs. McGuane den überwiegenden Teil der Tage im Haus herum, liest und weigert sich, zur Weinkellerei zu gehen. Sie hat mir praktisch alles im Haus überlassen. Ich bezahle die Rechnungen, kümmere mich um die Reinigung oder nötige Reparaturen, mache Besorgungen und sämtliche Einkäufe. Jetzt kommen die Haushälterin und der Gärtner zu mir statt zu ihr, wenn sie eine Frage haben; ich musste sogar eine Hilfskraft für die Küche einstellen, um all die anderen Dinge erledigen zu können.
»Die frische Luft würde Ihnen gut tun«, sage ich.
Wieder wedelt sie nur mit der Hand und schaut nicht einmal mehr auf. »Später«, murmelt sie matt, als hätte Ginas Tod sie all ihrer Kraft beraubt. »Vielleicht später.«
Ich betrachte sie einen Moment lang. Sie runzelt die Stirn bei dem Versuch, die Poesie ihrer Tochter zu verstehen, die darin ausgedrückte Gewalt und Verzweiflung. Ich denke an meine eigene Mutter und frage mich, ob sie meinen Verlust auch so betrauert hat. Ginas Abwesenheit wird von allen heftig empfunden, nicht nur von Mrs. McGuane und James, sondern ebenso von allen, die hier arbeiten. Ihr Tod hat Byblos regelrecht eingehüllt, und die traurige Stimmung scheint sich nicht auflösen zu wollen. Ich mache mich für meinen Spaziergang bereit.
»Carly?«
»Ja?«
»Sie werden uns doch nicht verlassen, oder?« Sie schaut mich mit ängstlicher Miene an, legt das Blatt Papier auf den Tisch und streicht achtlos mit der flachen Hand darüber. »James wird herüberkommen«, sagt sie.
Im Gegensatz zu seiner Mutter hat James sich in die Arbeit gestürzt. Ginas Verlust hat gehörige Energie in ihm freigesetzt, mit der er verzweifelt die Lücke auszufüllen sucht, die sie hinterlassen hat. Wenn er nicht in der Weinkellerei ist, arbeitet er in den Pflanzungen. Ich sehe ihn kaum noch, und wenn, dann klafft zwischen uns ein Abstand, den wir offenbar nicht überbrücken können. Die tote Gina trennt uns mehr als die lebendige.
»Er wird kommen«, sagt sie noch einmal mit einem Seufzer. »Er braucht einfach noch ein bisschen Zeit. Wie wir alle.«
Sie steht auf und kommt zu mir. Sie hat einiges an Gewicht verloren; das blaue Kleid hängt ihr lose um die Taille und lässt sie zerbrechlich und kraftlos erscheinen. Auch kommt sie mir nicht mehr so groß vor, obwohl sie mich noch immer überragt. Sie legt mir die Hände auf die Schultern.
»Sie bleiben doch, ja? Für immer, meine ich. Ich möchte keine Veränderungen in meinem Leben mehr. Und keine weiteren Verluste.« Sanft zieht sie meinen Kopf an ihre Brust und wiegt mich, als wäre ich ihre Tochter.
Ich gehe zur Hintertür hinaus und durchquere die Obst- und Gemüsegärten. In der Ferne erstrecken sich die Weinpflanzungen. Die Herbstlese hat endlich begonnen, und in den Weingärten herrscht reges Treiben. Feldarbeiter, Tagelöhner, bewegen sich rasch zwischen den Reihen hindurch und schneiden die Trauben mit ihren gebogenen Spezialmessern. Ein Traktor zieht einen flachen Anhänger voller Behälter mit Weintrauben hinter sich her, tuckert zur Kellerei, wo die Früchte gewogen, gequetscht und gepresst werden und der Saft zum Gären in Fässer oder Edelstahltanks gepumpt wird.
Ich gehe quer über den Rasen zu Ginas Haus. Seit Ginas Tod war ich nicht mehr
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