Außer Atem - Panic Snap
dort. Ich bin immer noch wütend darüber, dass ich mich so leicht habe hinters Licht führen lassen. Ich habe sie für meine Freundin gehalten. Vielleicht ist es jetzt, da sie tot ist, gehässig von mir, doch ich möchte, dass die Leute wissen, wie sie wirklich war. Ich möchte ihr, selbst über ihren Tod hinaus, die Verantwortung geben für die Narben, die sie mir vor so langer Zeit zugefügt hat. Doch James bittet mich noch immer, damit zu warten.
Der weiße Lieferwagen steht als ständige Erinnerung an ihre Abwesenheit vor dem Haus. Niemand fährt ihn, und trotzdem ist er kürzlich gewaschen und eingewachst worden.
Ich stelle fest, dass sich der Knauf an der Haustür drehen lässt, zögere aber. Will ich das Haus wirklich betreten? Ich schaue noch einmal zu Ginas Lieferwagen hinüber, der in seiner Sauberkeit und seinem Glanz so fehl am Platz wirkt. Er müsste eigentlich Schlammflecken haben und voller Staub sein, so staubig, dass er die graubraune Farbe von schmutzigem Spülwasser hätte. Stattdessen schimmert und glänzt er in der warmen Morgensonne – genauso sauber wie Ginas Ruf.
Ich stoße die Tür auf und gehe hinein. Die Haushälterin war hier und hat Ginas Sachen zusammengepackt, wie ich es ihr gesagt hatte.
Pappkartons stehen herum, manche sind aufgeklappt und noch leer, andere sind an der Wand aufeinander gestapelt und tragen die Aufschrift »SPENDE«: Auf einigen steht »GINA« und »Auf den Dachboden bringen«. Zwei große schwarze Müllbeutel stehen neben der Tür. James und Mrs. McGuane haben die Erinnerungsstücke und persönlichen Gegenstände, die sie behalten wollen, bereits an sich genommen.
Zögernd gehe ich durchs Haus. Es hat die unheimliche Aura eines verlassenen, einsamen Ortes. Kein Bild mehr an den Wänden, keine Tassen oder Zeitschriften auf dem Couchtisch, keine Decke zusammengeknüllt auf der Couch. Alle Küchenschränke, auch der Kühlschrank, leer.
Ich gehe ins Schlafzimmer und sehe, dass die Haushälterin hier noch nicht angefangen hat. Der Raum ist in einem kühlen Apfelgrün und Hellblau gestrichen, die mit Bienenwachs gepflegten Eichenmöbel sind hell und modern. Gina hat an ihrem letzten Tag ihr Bett nicht gemacht; das helle Bettzeug liegt zerknüllt auf der Matratze, auch ein zu einem Ball zusammengepresstes Papiertuch liegt noch dort.
Da mich ihr Privatleben noch immer interessiert, öffne ich die Schubladen der Kommode und sehe mir Stapel von Seidenunterwäsche, zusammengelegte Socken, gefaltete Pullover, Jeans und Trainingshosen und mehrere Badeanzüge an. Dann gehe ich zum Nachttisch hinüber. Die obere Schublade enthält Sexspielzeug – batteriebetriebene und mit Netzkabeln ausgestattete Vibratoren, Dildos und zwei Töpfe mit Gleitmittel. Ich frage mich, wie die Haushälterin das alles einordnen wird – als Spende, für den Dachboden oder als Müll?
Langsam schiebe ich die Schublade zu und sehe ihre Stiefel ordentlich aufgereiht im Schrank stehen: Cowboystiefel, purpurfarbene Wildlederstiefel, braune und schwarze Lederstiefel, eckig oder spitz zulaufend. Gina hat fast immer Stiefel getragen. Auf dem oberen Bord im Schrank entdecke ich einen weißen Stiefelkarton. Ich gehe hinüber, angele ihn herunter, öffne ihn. Er enthält Dutzende von Zeitungsartikeln – alle über mich. Ich setze mich auf das Bett und nehme sie einen nach dem anderen heraus. Sie stammen aus der
Davis Enterprise,
der
Sacramento Bee,
dem
San Francisco Chronicle
und vielen anderen Zeitungen. Das Papier ist gelblich, teilweise auch bräunlich, ist steif vor Alter, bröcklig und brüchig. Gina muss auf der Suche nach Mitteilungen über mich alle wichtigen Zeitungen Kaliforniens durchkämmt haben. Ich lese die Schlagzeile: »Junges Mädchen noch immer im Koma«. Und eine weitere: »Das Mädchen ohne Vergangenheit«. Dann: »Noch immer keine Spuren«. Da sind auch Berichte, die ich nie zu Gesicht bekommen habe. Ich blättere sie durch, lese jeweils die Schlagzeile und die ersten paar Absätze.
Dann stocke ich. Da ist ein Foto, eine Polaroid-Aufnahme, verblasst, bräunlich verfärbt. Ich nehme sie hoch. Das bin ich. Ich erkenne die Bluse wieder – weiß mit kleinen blauen Blüten –, die auf vielen der Porträts, die Gina von mir gemalt hat, zu sehen ist. Endlich habe ich ein echtes Bild von mir vor mehr als fünfzehn Jahren. Es ist nicht das Gesicht, das ich hier kennen gelernt habe, vor Wut so hässlich verzerrt. Meine Gesichtszüge – das zarte Kinn, die zierlichen Nasenflügel, die
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