Außer Atem - Panic Snap
milchig weiße, durchsichtige Haut – sind klar zu erkennen. Endlich sehe ich das junge Mädchen, das ich einmal gewesen bin. Sie war hübsch, lieblich, noch keine Frau. Ein zartes Wesen mit makelloser Haut und einem frischen, unschuldigen Gesichtsausdruck, dem die Zeit noch nichts hatte anhaben können. Selbst wenn man den Altersunterschied in Rechnung stellt, gibt es keinerlei Ähnlichkeit zwischen uns. Ich hatte keinen Grund zu fürchten, dass James das junge Mädchen in mir erkennen könnte, als ich im Frühjahr nach Byblos kam. Die Ärzte haben bei der Neugestaltung meines Gesichts gute Arbeit geleistet, doch sie hatten wenig, wovon sie ausgehen konnten. Meine Nase, meine Kinnlinie, meine Wangenknochen – in allem unterscheide ich mich von dem Mädchen auf dem Foto. Ihre Gesichtszüge sind fast perfekt, meine zusammengestoppelt, asymmetrisch; mein Gesicht ist aus Resten hergestellt, ein wenig von diesem, ein wenig von jenem. Ich spüre, dass ich das Mädchen auf dem Foto beneide, um das junge Gesicht und die unbeschwerte Schönheit. Jegliche Schönheit, die ich haben mag, ist das Ergebnis schmerzhafter Operationen. Doch niemand würde mein Gesicht als
schön
bezeichnen – ungewöhnlich nennt man es, ein wenig seltsam, von merkwürdiger Attraktivität. Aber schön? Nein. Ich bin nicht schön. Wenn das Mädchen unverletzt überlebt hätte, wäre es eine schöne Frau. Das sehe ich genau. Ich schiebe das Foto in meine Brusttasche.
Verstört sehe ich den restlichen Inhalt der Schachtel durch. Ziemlich weit unten entdecke ich Zeitungsberichte über James' Frau Anna, ihren Sturz, ihren Tod. Als ich die Blätter herausnehme, fällt ein Zettel zu Boden. Ich bücke mich, hebe ihn auf, lese die maschinengeschriebenen Worte. Es ist eins von Ginas Gedichten, nicht so ausgefeilt wie die anderen und auch im Stil anders, doch die Bedeutung ist offensichtlich.
Kein Mädchen sieht mein Missfallen,
(konnte von meinem Zwilling nicht lassen).
Buße, Buße, sie sind alle gefallen,
(konnte sie nicht gehen lassen).
27
»Du hast Gina gedeckt«, sage ich.
James sitzt, einen Kaffeebecher in der Hand, auf der Couch. Er muss ein Treffen mit Geschäftspartnern gehabt haben, denn er ist gut angezogen in dunkler Gabardine-Hose, elfenbeinfarbenem Hemd und einer bedruckten Seidenkrawatte. Dampf steigt aus dem Becher auf. Seine linke Hand ist von einem Gipsverband bedeckt, der von den Fingerspitzen bis zur Mitte des Unterarms reicht. Er hat sich bei seinem Fausthieb gegen die Wand die Knöchel aufgeschlagen und drei Knochen gebrochen.
Ich strecke ihm das Gedicht entgegen, das ich in Ginas Haus gefunden habe. Er nimmt es, liest es aufmerksam, seufzt.
»In den Polizeiberichten und Zeitungsartikeln steht, dass du allein mit Anna auf der Laufplanke gewesen bist«, sage ich. »Aber das stimmt nicht, oder?«
»Nein«, sagt er und gibt mir den Zettel zurück. Er hebt den Becher an die Lippen, trinkt einen Schluck, beobachtet mich eine Weile und sagt: »Ich habe nicht gesehen, dass Gina Anna von der Planke gestoßen hat – sie waren hinter mir –, aber ich habe es immer vermutet. Als die Polizei kam...« Er stellt den Becher auf den Tisch und seufzt erneut. »Ich konnte sie doch nicht ins Gefängnis gehen lassen.«
Fades, aschgraues Vormittagslicht fällt durch die Bogenfenster herein, und graue Stäubchen schweben durch die dämmrige Luft. »Du wusstest, dass sie mir nachgehen wird«, sage ich.
»Nein.« Eine blonde Strähne fällt ihm in die Augen. Er wischt sie beiseite.
»Ich warte nicht länger«, sage ich. »Ich werde der Polizei dieses Gedicht zeigen und alles erzählen.«
»Sie ist doch keine Bedrohung mehr für dich.«
Quer durch den Raum kann ich das Bild an seinem Schreibtisch lehnen sehen, das Bild des Mädchens. Ich kann es aus dieser Perspektive nicht genau erkennen, aber das ist auch gar nicht nötig. Ich kenne es mittlerweile in- und auswendig – die Wut, die Fassungslosigkeit darüber, dass das Leben so entsetzlich schief laufen kann, das bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Gesicht. Ich gehe zu James hinüber. »Ich möchte... ich möchte, dass die Menschen erfahren, wer mir das angetan hat.«
Er streckt die Hand aus, legt sie mir auf den Arm und zieht mich näher zu sich. »Das wird meine Mutter vernichten«, sagt er. »Und uns wird es auch vernichten.«
Er zieht mich auf seinen Schoß und umarmt mich; es ist das erste Mal seit Ginas Tod. »Ich hätte sie nie aufgegeben, solange sie lebte«, sagte er, »und das
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