Außer Atem - Panic Snap
da sehe ich die Lederpeitsche, deren lange schwarze Riemen als unordentliches Häufchen auf dem Boden liegen, obenauf der schimmernde Griff. Ich muss hier raus.
Leise, vorsichtig stehe ich auf. Als ich mich wegschleichen will, gibt James ein Geräusch von sich, ein leises Stöhnen. Ich erstarre, halte den Atem an, warte, doch er bewegt sich nicht mehr. Die Peitsche, diese greifbare Erinnerung an die letzte Nacht, scheint mich zu verspotten. Um sicherzugehen, dass ich ihn nicht geweckt habe, warte ich angstvoll noch ein paar Sekunden, gehe dann ins Atelier hinüber und hebe meine Kleider auf, die als kleiner Hügel auf dem Boden liegen. Noch einmal schaue ich zu ihm zurück. Er schläft.
Meine Kleider und Schuhe im Arm, gehe ich auf Zehenspitzen die Wendeltreppe hinunter. Im Morgenlicht wirkt sein Haus kühl und korrekt, düster, beinahe kahl. Durch die Bogenfenster mit den zugezogenen Vorhängen fällt Licht herein, in den langen Strahlen schweben Staubpartikelchen wie feiner Puder durch die Luft. Eilig ziehe ich mich an, greife mir die Wagenschlüssel von dem Tisch neben der Tür und öffne die Tür. Helles Tageslicht strömt herein. Ich drehe mich noch einmal um, zögere. Der zersprungene Bilderrahmen fällt mir ein, und ich gehe hinüber zur anderen Seite des Raumes. Sein Schreibtisch sieht noch genauso aus wie bei meinem letzten Besuch: der Computer mit ausgeschaltetem Monitor, ordentlich aufeinander gestapelte Papiere, eine Keramikschale mit Büroklammern und Gummibändern, Kugelschreiber und Bleistifte in einem Plastikbehälter und an der Seite die beiden Bilderrahmen. Das Foto von James und Gina steht so da, wie ich es zurückgelassen habe, leicht gekippt, damit der Sprung im Glas nicht auffällt. Ich nehme es hoch. Es kann gut sein, dass James noch gar nicht bemerkt hat, dass das Glas zerbrochen ist.
Abrupt schaue ich hoch. Ich höre, wie er sich oben im Bett bewegt. Rasch stelle ich den Bilderrahmen auf den Tisch zurück, kippe ihn etwas und gehe zur Tür. Ich kann ihn heute Morgen nicht ertragen.
»Carly?«, höre ich ihn mit schlaftrunkener Stimme rufen.
Ich sause aus der Tür und lasse sie hinter mir ins Schloss fallen.
Nachdem ich zu Hause war und mich umgezogen habe – lange weiße Hosen, um die Bissspuren auf meinen Oberschenkeln zu verbergen –, kehre ich nach Byblos zurück und gehe in den Garten hinaus. Artischocken, wohin das Auge sieht. Wir haben mehr als genug davon. In den letzten beiden Wochen habe ich sie täglich serviert – kalt mit Majonäse, warm mit Sauce hollandaise, mariniert im Salat, zerkleinert in Omeletts und Krabben-Pfannkuchen, gebacken mit Monterey-JackKäse, grünen Chilis und Knoblauch. Ich habe sie in Suppen ausprobiert und als Vorspeise, habe sie gekühlt, gedämpft, sie zu einer Sauce verarbeitet, sie sautiert und gekocht. Ich habe Artischocken mit Dill und Schrimps zubereitet, die Herzen mit Pilzen, Schweizer Käse und Weißwein gebraten, sie mit Feta und Zwiebeln und Reisbrei in süße grüne Paprika gefüllt – und doch habe ich in den Wald von Artischocken in meinem Garten kaum eine Schneise schlagen können. Ich friere die Herzen und das essbare Fleisch der Blätter ein, um sie in den nächsten Monaten zu verwenden. Wir haben Besuchern tütenweise Artischocken mitgegeben, all unseren Gästen, und trotzdem haben wir mehr davon als je zuvor.
Eine erfrischende Morgenbrise streicht über mich hinweg, während ich arbeite, und der Himmel ist von pudrigem Blau. Emsig schneide ich eine Artischocke nach der anderen ab. Die Pflanzen sehen farnartig aus und sind fast so groß wie ich – mit gebogenen silbergrünen Blättern und dicken geschwollenen Knospen, deren Schuppen fest geschlossen sind. Sobald sich die Schuppen öffnen, verwandelt sich die Artischocke in eine riesige purpurfarbene Distelblüte – eine phänomenale Farbenpracht, doch nicht genießbar. Ich schneide die Stängel fünf Zentimeter unter den Knospen ab, lege sie in einen großen Weidenkorb und arbeite mich Stück für Stück voran. Das hätte am Nachmittag auch der Gärtner erledigt, aber ich wollte draußen sein. Ich bin noch immer verwirrt, und ich wollte James nicht ausgerechnet jetzt über den Weg laufen. Wenn wir uns schon geliebt haben, als ich jünger war, dann kann ich mich überhaupt nicht daran erinnern. Und meiner Ansicht nach müsste ich mich daran erinnern – diese Art Sex kann man gar nicht vergessen – ein wenig grob, ein wenig unheimlich und höchst angenehm, gerade weil er grob
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