Aussortiert
würde
man im Boxsport sagen, vielleicht hatte Lidia eine leichte Gehirnerschütterung
davongetragen, in diesem Fall hätte man im Krankenhaus auch nicht
viel mehr tun können, als Bettruhe zu verschreiben.
»Du hast ihn nicht
erkannt?«
»Nein.«
»Wer hat Schlüssel
zu deiner Wohnung?«
»Niemand. Außer
mir.«
»Nichtmal dein Freund?«
»Nein. Der wars nun
ganz bestimmt nicht.«
»Gut Ich meine, gar
nicht gut. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Tut mir leid, wenn ich
dir die Nacht verderbe.«
»Red keinen Quatsch.
Red einfach so wenig wie möglich. Hast du schon nachgesehen, ob was
fehlt?«
»Wie denn? Was gäbs
hier schon zu holen?«
»Hattest du
irgendwelche Materialien hier, die LILA betreffen?«
»Nein. Heute mal nicht.«
»Konnte irgend jemand
wissen, daß du später nach Haus kommst als üblich?«
»Nein.«
Nabel tupfte ihr Gesicht mit
einem nassen Handtuch ab. Die Blutung war längst gestillt, und er schämte
sich, die Berührung auf gewisse Art zu genießen.
»Dann wars wohl kein
gewöhnlicher Einbrecher. Jemand hat auf dich gewartet. Erst als du in
der Tür stehengeblieben bist, hat er durchgedreht. Er mußte
damit rechnen, daß du deine Waffe ziehen würdest. Könnte
sein, daß er dir von vornherein eins auf die Schnauze geben wollte,
nichts weiter.«
»Tröstlich!«
»Tschuldigung wegen der
Wortwahl. Jedenfalls, das Türschloß sieht nicht sehr
beeindruckend aus. Serienware. Dafür nen Dietrich zu bekommen ist
keine große Kunst.«
»Wußte ich nicht.
Ist das so?«
»Aber was wollte er von
dir?«
Lidia lag auf der Couch,
nunmehr mit einem Beutel Eis auf der Stirn. Nabel stand auf, um kochendes
Wasser auf die Teebeutel zu schütten, er dimmte die Zimmerbeleuchtung
weiter herab, bis die Tassen nur noch als schwache Silhouetten zu erkennen
waren. Dann geschah, angesichts der Umstände, ein kleines Wunder.
Der Eisbeutel rutschte Lidia
von der Stirn und sie schnarchte. Dezent nur, aber sie schnarchte, also
schlief sie, zweifellos, und Nabel nahm den Eisbeutel, trug ihn zur Spüle,
legte ihn leise hinein, die Eiswürfel machten dumpfe Geräusche
im Becken, er setzte sich neben die Schlafende auf den Boden, hörte
auf ihren Atem, hörte lange, anfangs besorgt, endlich beruhigt ihrem
bald lautlosem Atem zu, zuletzt wankte er in Lidias Schlafzimmer, legte
sich in ihr Bett und schlief auch.
16
Morgens um sieben vibrierte
das Handy. Nabel schaltete es ab und trottete schlaftrunken ins
Wohnzimmer. Draußen war es hell geworden. Lidia schlief immer noch,
wenn auch unruhig, sie schien zu frösteln, und Nabel legte ihr zusätzlich
zur dünnen Fleece-Decke seine Jacke über. Er setzte sich vor der
Couch auf den Boden und betrachtete die Schlafende. Als könne sie
seinen Blick wahrnehmen wie eine flanierende Mücke auf der Haut,
blinzelte sie prompt und schüttelte sich, schrak hoch, realisierte
die Umgebung.
»Kai?«
»Schlaf weiter!«
»Du bist so lieb. Warst
du die ganze Zeit auf dem Fußboden? Leg dich doch hin! Geh in mein
Zimmer.«
»Mach dir um mich bloß
keine Sorgen.«
Lidia pennte noch einmal weg,
und Nabel fand, daß es auf ihre Aufforderung hin völlig okay
war, sich erneut in ihr Bett zu legen, für eine halbe Stunde, eine
kleine knappe halbe Stunde köstlichen Schlafes, dann, schon im
Fallen, erinnerte er sich des Anrufs auf dem Handy und wählte die
oberste Nummer auf der Liste entgangener Anrufe, eine Nummer, die ihm
nichts sagte.
Sie gehörte einem
Vollzugsbeamten aus dem Untersuchungsgefängnis. Murat Kursun, der an
diesem Morgen hätte entlassen werden sollen, habe Selbstmord
begangen, sei am Fenstergitter erhängt aufgefunden worden.
»Das glauben Sie doch
selber nicht.«
»Wie bitte?«
»Ich bin ein wenig
durcheinander.« Nabel legte auf. Und wieder vibrierte das Handy.
»Was denn jetzt noch?«
»Hier ist König.
Es hilft nichts. Wir müssen reden.«
Nabel hatte sich Zeit
gelassen. Er ließ vor allem Lidia Zeit, sich zu duschen und
anzuziehen, einen kleinen Koffer zu packen, er gab ihr seine Wohnungsschlüssel.
Sie solle es sich bei ihm, so gut es ging, gemütlich machen und ein,
zwei Tage freinehmen. Er hatte sie in ein Taxi verfrachtet und war zu Fuß
zum angegebenen Treffpunkt marschiert, dem Friedhof am Mehringdamm, wo E.
T. A. Hoffmann und Mendelssohn-Bartholdy begraben lagen. Ein pittoresker
Friedhof.
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