Aussortiert
durchblicke. Bei allem Respekt für die Toten – aber das wächst
auch wieder nach. Was Tschutschelow sonst treibt, muß absolute
Priorität haben.«
»Verstehe. Nabel zerrt
da was in die Öffentlichkeit, was dort vorerst nicht hingehört.«
»So ungefähr. Und
ich war auch noch gezwungen, ihm gegenüber den Namen zu erwähnen.
Selbst wenn Tschutschelow was mit den Morden zu tun hat, deswegen kriegen
wir ihn nie dran. Das sind Kollateralschäden.«
»Und wenn Sie Nabel in
groben Zügen unterrichten würden, haben Sie daran schon gedacht?«
König verzerrte sein
Gesicht, wie unter Zahnschmerzen.
»Davon geträumt
hab ich heute nacht. Alpträume. Der Mensch ist hochgradig
inkompetent, er würde unser Vorgehen ernsthaft gefährden. Das
kann ich nicht zulassen.«
»Wir können ihm
aber schlecht in die Parade fahren.«
»Nein, das nicht.
Selbstverständlich nicht. Leider. So ein Dilemma!«
Pfeifer erwähnte mit
keinem Wort, daß er gestern nacht bedroht worden war, von einem von
Tschutschelows Raufbolden. Er konnte seinem Vorgesetzten auch schlecht zum
Vorwurf machen, daß der ihn nicht von der Razzia in der Festen Burg
unterrichtet hatte. Was sonst allerdings meistens der Fall gewesen war. König
hatte ihm manchmal sogar ausdrücklich erlaubt, gewissen Leuten
Hinweise zu geben, um sich deren Vertrauen zu erschleichen. So hatte das
alles einst angefangen. Die ganze Misere. Nun gab es kein Zurück.
Gegen Mitternacht saß
Nabel wie so oft im Sommer auf seinem Balkon über dem Körnerpark
und beugte sich noch einmal über die ominöse Liste aus Kistners
Nachlaß. Inzwischen ahnte er, daß ihre Sprengkraft um einiges
höher sein mußte, als bisher befürchtet. Wie über
einem schwierigen Schachproblem saß er und probierte mögliche Züge,
um jene einzige Zugfolge zu finden, die zum Matt des schwarzen Königs,
zur Lösung führen würde.
Pfeifer hatte Lidia gegenüber
einmal einen Kumpel in der Chemie erwähnt. Vielleicht mußte in
diese Richtung noch härter ermittelt werden. Vielleicht hatte Pfeifer
ein kleineres, privates Chemielabor gemeint. Aber wie etwas aus ihm
herauskitzeln, das nicht einmal angesprochen werden durfte? So ging es
nicht weiter. Nabel brauchte einen Verbündeten. Aber wen? Er genoß
die sanfte, vorbeistreichende Brise, das leise Rauschen der Baumkronen,
als das Telefon klingelte. Aus einer Konzentration gestört, die keine
mehr war, eher ein metaphysisches Dämmern über dem Gedanken an
die allgemeine Schlechtigkeit der Welt, profan herausgerissen aus einer
fast idyllischen Melancholie, hob er den Hörer ans Ohr. Es war Lidia.
Sie klang sehr aufgeregt.
»Komm! Komm bitte
sofort!«
Lidia hatte den ganzen Tag,
sofort nach Nabels Anruf, Informationen über den heimlichen Besitzer
des Francis-Clubs, Igor Tschutschelow, zusammengetragen. Auch über
dessen deutsche Gattin, die Gräfin Anita von Schönfels. Sie
wurde in den Society-Spalten des Boulevards öfters erwähnt; in
ihrer Wilmersdorfer Stadtvilla gab sie regelmäßig kleine Bälle
und Empfänge, profan gesprochen Parties, spendete hier und da für
gute Zwecke, war Dekoration bei fast jedem Promi-Event und zeichnete sich
durch exquisite Garderobe und übertriebene Juwelenlast aus. Manchmal,
jedoch selten wirklich greifbar, mehr zwischen den Zeilen, blitzte in der
Berichterstattung leiser Spott auf, über die verarmte Gräfin aus
der Weddinger Zweizimmerwohnung, die von einem über zwanzig Jahre
älteren dubiosen Geschäftsmann allein ihres Titels wegen
geehelicht worden war und dadurch in die Scheinwerfer des öffentlichen
Interesses zurückgefunden hatte.
In höchsten Tönen
als Dame von Stil, Anmut, Güte und Geschmack gelobt wurde sie auffälligerweise
in den Kolumnen Kistners, vor dem sich sonst eigentlich niemand je sicher
fühlen durfte. Dem Bildmaterial nach zu urteilen, gab sie stets eine
gepflegte und elegante Figur ab, wirkte ansonsten nicht übertrieben
fotogen. Lidia sichtete und ordnete die Fotos chronologisch. Es
existierten kaum Aufnahmen, die sie an der Seite ihres Gatten zeigten.
Über Igor Tschutschelow,
sechzig Jahre alt, ließen sich im Boulevard nur Stichworte finden.
Auch sonstige Quellen zeigten sich eher ratlos in der Frage, wie dieser
Mann zu charakterisieren sei. Er mußte nach dem Fall der Sowjetunion
viel Geld gemacht und es rechtzeitig ins Ausland geschafft haben, auf
welche
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