Aussortiert
Weise, darüber waren diverse Meinungen im Umlauf. Alle
basierten mehr oder minder auf Gerüchten. Im Grunde war hierzulande
bisher niemand ernsthaft daran interessiert gewesen, Tschutschelow zu
durchleuchten. Sein Name tauchte in Zusammenhang mit osteuropäischen
Prostituierten nur ein einziges Mal auf. Ein Kölner Bordellbetreiber,
wegen Steuerhinterziehung angeklagt, hatte Tschutschelow als
Fleischlieferanten für seine drei allerdings völlig legalen Großbordelle
enttarnt, zog diese Aussage aber nach wenigen Tagen wieder zurück, er
sei mißverstanden worden. Mehr als eine Randnotiz im Lokalteil blieb
von der Angelegenheit nicht haften.
Lidia erstattete Kai
telefonisch Bericht, ging nach der Arbeit eine Nudelsuppe essen, bei ihrem
Lieblingsasiaten in der Bergmannstraße, sie fühlte sich endlich
besser, saß draußen, genoß die tiefe Abendsonne. Nach fünf
Jahren Pause kaufte sie sich wieder eine Packung Zigaretten und inhalierte
mit großem Genuß. Das Rauchen hatte sie damals ihrem Freund
zuliebe aufgegeben. Morgen würde sie ihm das Ende der Beziehung
mitteilen, etwas, das sie wochenlang immer wieder verschoben hatte.
Nach Sonnenuntergang machte
sie einen Spaziergang über den Mehringdamm, zog Geld am Automaten, gönnte
sich einen Cocktail in der Bar Dos Piranhas, dann noch einen Absacker im
Promillchen, wo man als Frau ohne Begleitung mit hundertprozentiger
Sicherheit angesprochen wurde, auf niveauarme Art, aber das störte
Lidia nicht oder ließ sie kalt. Ihr gesamtes Wesen unterzog sich
seit Tagen und Wochen einem ihr selber unheimlichen Wandel, ausgelöst
durch den Fall, an dem sie arbeitete. Nie zuvor war sie an ihre Grenzen
gestoßen. Der, wenn man es so ausdrücken kann, Zusammenprall
mit ihren Grenzen hatte Lidias Selbstwertgefühl schwer angeknackst.
Sie war sich bewußt geworden, von welcher Droge sie tatsächlich
jahrelang abhängig gewesen war – der allabendlich euphorischen
Gewißheit, funktioniert, mehr noch, brilliert zu haben.
Sie sah auf die Uhr, es war
spät. Die Müdigkeit trieb sie nach Haus, obwohl es im
Promillchen gerade lustig zu werden begann, zwei uralte Trinker mit
verfilzten Rauschebärten sangen zweistimmig irische Volkslieder, und
das gar nicht schlecht.
Lidia stieg die zwei Treppen
hinauf, öffnete ihre Wohnungstür und wollte eben den
Lichtschalter betätigen, als vor ihr in nicht bestimmbarer Entfernung
der Dielenboden knarzte. Sie erschrak und hielt inne. Dielenböden in
Altbauwohnungen können der Wahrnehmung Streiche spielen, Lidia wußte
das, doch unter dem Einfluß des Alkohols zögerte sie, das Licht
anzuknipsen, als böte das vor ihr liegende Dunkel eine Art
Sicherheit. Sie trat einen Schritt zurück, stand auf der Türschwelle,
mit der rechten Hand griff sie reflexartig nach ihrer Waffe, die sie
– leider – im Büro gelassen hatte. Jetzt herrschte
Stille.
Ich benehme mich albern,
dachte sie, hier so auf der Türschwelle herumzustehen, hab ich Angst
vor meiner eigenen Wohnung? Was ist nur mit mir los? Auf los, wie auf ein
Stichwort hin, knarzten die Dielen erneut, keine Täuschung möglich,
Schritte, ihr entgegenkommende schnelle Schritte, ein Schatten, der sich
aus dem Dunkel schälte, vor ihr emporwuchs, den Umriß einer
Gestalt annahm, sie war zu gelähmt, um zu reagieren, der Angriff
dauerte keine zwei Sekunden, eine Faust traf sie zwischen Stirn und
Nasenwurzel, Lidia brach zusammen, der Angreifer sprang über sie
hinweg, hetzte die Treppe hinunter. Lidia kämpfte gegen die Ohnmacht
an, spürte Blut über ihre Nase laufen, schmeckte das Blut auf
der Oberlippe, kroch in ihre Wohnung, stemmte die Tür mit beiden Füßen
zu, daß es knallte. Für Minuten blieb sie benommen liegen, dann
legte sie die Kette vor die Tür und wankte ins Bad. Sie hatte Lust zu
schreien, weniger aus Schmerz denn aus Wut. Bei ihrem eigenen Anblick im
Badezimmerspiegel wurden ihr die Knie weich, sie suchte die ganze Wohnung
nach einem Pflaster ab und blutete, bis sie endlich eines fand, ihr
liebstes Badetuch voll.
Nabel setzte Teewasser auf.
In dieser Nacht war an Schlaf nicht mehr zu denken. Er würde bei
Lidia bleiben, sie beschützen und trösten. Nichts, was er an
sich lieber getan hätte, doch morgen wartete ein harter Arbeitstag
auf ihn. Er schämte sich dieses doch ganz natürlichen
Gedankengangs. Die Wunde selbst war nicht sehr schlimm, ein Cut,
Weitere Kostenlose Bücher