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Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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Weise, darüber waren diverse Meinungen im Umlauf. Alle
     basierten mehr oder minder auf Gerüchten. Im Grunde war hierzulande
     bisher niemand ernsthaft daran interessiert gewesen, Tschutschelow zu
     durchleuchten. Sein Name tauchte in Zusammenhang mit osteuropäischen
     Prostituierten nur ein einziges Mal auf. Ein Kölner Bordellbetreiber,
     wegen Steuerhinterziehung angeklagt, hatte Tschutschelow als
     Fleischlieferanten für seine drei allerdings völlig legalen Großbordelle
     enttarnt, zog diese Aussage aber nach wenigen Tagen wieder zurück, er
     sei mißverstanden worden. Mehr als eine Randnotiz im Lokalteil blieb
     von der Angelegenheit nicht haften.
    Lidia erstattete Kai
     telefonisch Bericht, ging nach der Arbeit eine Nudelsuppe essen, bei ihrem
     Lieblingsasiaten in der Bergmannstraße, sie fühlte sich endlich
     besser, saß draußen, genoß die tiefe Abendsonne. Nach fünf
     Jahren Pause kaufte sie sich wieder eine Packung Zigaretten und inhalierte
     mit großem Genuß. Das Rauchen hatte sie damals ihrem Freund
     zuliebe aufgegeben. Morgen würde sie ihm das Ende der Beziehung
     mitteilen, etwas, das sie wochenlang immer wieder verschoben hatte.
    Nach Sonnenuntergang machte
     sie einen Spaziergang über den Mehringdamm, zog Geld am Automaten, gönnte
     sich einen Cocktail in der Bar Dos Piranhas, dann noch einen Absacker im
     Promillchen, wo man als Frau ohne Begleitung mit hundertprozentiger
     Sicherheit angesprochen wurde, auf niveauarme Art, aber das störte
     Lidia nicht oder ließ sie kalt. Ihr gesamtes Wesen unterzog sich
     seit Tagen und Wochen einem ihr selber unheimlichen Wandel, ausgelöst
     durch den Fall, an dem sie arbeitete. Nie zuvor war sie an ihre Grenzen
     gestoßen. Der, wenn man es so ausdrücken kann, Zusammenprall
     mit ihren Grenzen hatte Lidias Selbstwertgefühl schwer angeknackst.
     Sie war sich bewußt geworden, von welcher Droge sie tatsächlich
     jahrelang abhängig gewesen war – der allabendlich euphorischen
     Gewißheit, funktioniert, mehr noch, brilliert zu haben.
    Sie sah auf die Uhr, es war
     spät. Die Müdigkeit trieb sie nach Haus, obwohl es im
     Promillchen gerade lustig zu werden begann, zwei uralte Trinker mit
     verfilzten Rauschebärten sangen zweistimmig irische Volkslieder, und
     das gar nicht schlecht.
    Lidia stieg die zwei Treppen
     hinauf, öffnete ihre Wohnungstür und wollte eben den
     Lichtschalter betätigen, als vor ihr in nicht bestimmbarer Entfernung
     der Dielenboden knarzte. Sie erschrak und hielt inne. Dielenböden in
     Altbauwohnungen können der Wahrnehmung Streiche spielen, Lidia wußte
     das, doch unter dem Einfluß des Alkohols zögerte sie, das Licht
     anzuknipsen, als böte das vor ihr liegende Dunkel eine Art
     Sicherheit. Sie trat einen Schritt zurück, stand auf der Türschwelle,
     mit der rechten Hand griff sie reflexartig nach ihrer Waffe, die sie
     – leider – im Büro gelassen hatte. Jetzt herrschte
     Stille.
    Ich benehme mich albern,
     dachte sie, hier so auf der Türschwelle herumzustehen, hab ich Angst
     vor meiner eigenen Wohnung? Was ist nur mit mir los? Auf los, wie auf ein
     Stichwort hin, knarzten die Dielen erneut, keine Täuschung möglich,
     Schritte, ihr entgegenkommende schnelle Schritte, ein Schatten, der sich
     aus dem Dunkel schälte, vor ihr emporwuchs, den Umriß einer
     Gestalt annahm, sie war zu gelähmt, um zu reagieren, der Angriff
     dauerte keine zwei Sekunden, eine Faust traf sie zwischen Stirn und
     Nasenwurzel, Lidia brach zusammen, der Angreifer sprang über sie
     hinweg, hetzte die Treppe hinunter. Lidia kämpfte gegen die Ohnmacht
     an, spürte Blut über ihre Nase laufen, schmeckte das Blut auf
     der Oberlippe, kroch in ihre Wohnung, stemmte die Tür mit beiden Füßen
     zu, daß es knallte. Für Minuten blieb sie benommen liegen, dann
     legte sie die Kette vor die Tür und wankte ins Bad. Sie hatte Lust zu
     schreien, weniger aus Schmerz denn aus Wut. Bei ihrem eigenen Anblick im
     Badezimmerspiegel wurden ihr die Knie weich, sie suchte die ganze Wohnung
     nach einem Pflaster ab und blutete, bis sie endlich eines fand, ihr
     liebstes Badetuch voll.
    Nabel setzte Teewasser auf.
     In dieser Nacht war an Schlaf nicht mehr zu denken. Er würde bei
     Lidia bleiben, sie beschützen und trösten. Nichts, was er an
     sich lieber getan hätte, doch morgen wartete ein harter Arbeitstag
     auf ihn. Er schämte sich dieses doch ganz natürlichen
     Gedankengangs. Die Wunde selbst war nicht sehr schlimm, ein Cut,

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