Australien 01 - Wo der Wind singt
mehreren Tagen im Mutterleib gestorben.
Kate hatte sich ihre glitschigen Hände an den Flanken des Mutterschafs abgewischt und dabei an das Baby gedacht, das in ihrem Bauch munter vor sich hin strampelte. Sie hatte das Schaf über dessen knochigen Hüften bei der Wolle gepackt und seine Hinterbeine hochgezogen.
»Komm schon, Mädchen. Versuch aufzustehen.«
Dann hatte Kate zugesehen, wie das Mutterschaf davongewankt war, die dunkelrote Plazenta hinter sich her schleifend, den Kopf gesenkt und mit vor Schmerz zitternden Beinen. Sein totes Junges hatte es aufgrund des Schocks wohl schon vergessen.
Kate hatte das tote Lamm bei den Hinterbeinen genommen, um es zur Farm zu bringen, wo sie es in die Verbrennungsanlage werfen würde. Beim Gehen war der Kopf des Kadavers ständig auf den Boden aufgeschlagen. Es war ein ziemlich großer Widder gewesen.
Kate hatte an ihre Mutter gedacht. Und sie hatte wieder an den Tod gedacht. Daran, dass der Tod sich jahrelang Zeit gelassen hatte, um sich Laney endgültig zu holen. Der Krebs hatte ihre Mutter langsam immer dünner und ihre Haut immer bleicher werden lassen. Eine Haut, die mit der Zeit so trocken und spröde geworden war, dass sie wie Reispapier geknistert hatte, wenn Kate ihre Mutter vorsichtig in ihrem Bett umgedreht hatte, um ihr den Rücken zu waschen oder um die Laken zu wechseln. Als es dann auf das Ende zugegangen war, waren Laneys Augen der einzige Ort gewesen, wo Kate noch Licht und Leben gesehen hatte. Nur dort hatte sie noch die Mutter gefunden, die sie einst gekannt hatte.
Nach einer Weile schnitten die Fesselgelenke des schweren Lammes in Kates Hände ein. Sie konnte das tote Tier jedoch nicht einfach in den Busch werfen, so wie sie es zu Hause getan hätte. Hier gab es keine Tasmanischen Teufel, die das Aas mit Haut und Haaren gefressen hätten, so dass von dem Lamm schließlich nur noch ein paar Zähne oder ein kleiner Elfenbeinhuf übrig geblieben wäre. Sie sah das gefleckte kleine Lamm an und fragte sich dabei, warum es ihr nicht leidtat. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie dort draußen auf der Koppel ihr eigenes Kind tot zur Welt bringen würde. Was würde sie dabei empfinden, wenn sie es verlor?
Auch Kates Schulter tat ihr jetzt vom Tragen weh. Sie atmete heftig. Atmete für zwei. Sie dachte daran, wie ihre Mutter verzweifelt um Luft gerungen hatte, als sie das letzte Mal die Treppe zum Dachboden in Bronty hinaufgestiegen war. Sie hatte diesen Raum unbedingt noch ein letztes Mal sehen wollen. Hatte ihn spüren wollen. Kate machte sich jetzt Sorgen darüber, was die neue Frau ihres Vaters damit anstellen würde. War Annabelle schon dort oben gewesen? Hatte sie schon die alte Zugtreppe an dem abgegriffenen Seil herabgezogen? Hatte der Dachboden Annabelle seine Geheimnisse zugeflüstert? Geheimnisse, die er seit vier Generationen von Bronty-Frauen bewahrte? Diese Frau aus Sydney würde es doch hoffentlich nicht wagen, die Schätze, die dort aufbewahrt wurden, auch nur zu berühren? Oder etwa doch?
Sie stellte sich Annabelle mit ihren gebleichten Zähnen, den lackierten Nägeln und den blondierten Haaren vor. Kate wünschte sich, dass sie eine Leiter genommen und mit ihrem Taschenmesser das Zugseil kurz unter der Decke abgeschnitten hätte, damit die Dachbodentür für immer geschlossen und außerhalb von Annabelles Reichweite blieb. Dann hätte die neue Frau ihres Vaters den Raum unter dem Dach vielleicht irgendwann vergessen, so dass er wie eine Insel vom restlichen Teil des Hauses abgeschnitten blieb. Wenn sie das nächste Mal mit Will telefonierte, würde sie ihn fragen, ob er vielleicht schon einmal daran gedacht hatte, ebendas zu tun.
Wieder auf Maureens und Tonys Hof, warf Kate das Lamm in die flüsternde Asche, die auf dem Boden des Verbrennungsofens im Frühlingswind herumwirbelte. Sie würde den Kadaver später verbrennen. Während sie sich auf den Weg in die warme Küche ihrer Tante machte, zupfte sie sich die Reste der angetrockneten Nachgeburt von ihren roten Händen, bevor sie sie unter den heißen Wasserstrahl hielt.
Am Tisch versuchte sie dann, ein Schälchen Müsli mit warmer Milch hinunterzuwürgen. Sie hatte noch eine Stunde Zeit, bis sie zur Uni musste, wo sie unförmig und schwerfällig in den düsteren Vorlesungssaal watscheln würde. Wenn sie dann in der ersten Reihe saß, da sie nicht die geringste Lust verspürte, sich mit ihrem dicken Bauch die Treppe hinaufzuschleppen, würde sie die Blicke der anderen Studenten
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