Australien 01 - Wo der Wind singt
stoßweise. Sie spürte, wie ihr Herz raste.
Nachdem Kate lange Zeit so dagesessen hatte, wischte sie sich mit dem Handrücken über ihre Nase und richtete sich im Sessel auf. Dabei fiel ihr Blick auf einen kleinen Stapel ungeöffneter Briefe. Sie blätterte sie geistesabwesend durch und sah, dass sie allesamt an sie adressiert waren. Das meiste davon war nur Werbung – daher war es verständlich, dass ihr Vater sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie ihr nachzusenden. Pferdekataloge, Flyer von Countrybands, ein Schreiben ihrer alten Schule. Ihr Vater hatte die Briefe wahrscheinlich hier hingelegt, um sie ihr später zu geben. Er hatte den Schreibtisch wohl deshalb gewählt, weil dies der einzige Gegenstand in diesem Haus war, der noch in Verbindung mit ihr stand. Als sie die wenigen ernsthaften Briefe durchsah, fiel Kate ein weißer Umschlag mit einem seriös aussehenden Firmenlogo auf. Sie öffnete den Brief stirnrunzelnd und begann ihn zu überfliegen. Das Brief sah formell aus, die Unterschrift darunter war ein wichtigtuerischer Schnörkel in blauer Tinte. Der Brief kam von einer Versicherungsgesellschaft. Er bezog sich auf eine Lebensversicherung für den Fall des Todes von Mr William Webster. Man bat darin um Namen und Anschrift von Mr Websters Testamentsvollstrecker, damit dieser formell Anspruch auf die Versicherungssumme von $ 200.000 erheben konnte, die der Begünstigten Ms Katherine Elaine Webster zustand. Kate starrte das Schreiben verständnislos an. In ihrem Job hatte sie sich inzwischen einigermaßen an die umständlich formulierten Schreiben und die Gepflogenheiten der Geschäftswelt gewöhnt, in ihrer gegenwärtigen Verfassung dauerte es jedoch eine ganze Weile, bis sie begriffen hatte, was dort stand. Will hatte einen Lebensversicherung in Höhe von
200.000 Dollar abgeschlossen, und sie sollte das Geld bekommen. Kate spürte, wie sie von einer tiefen Traurigkeit erfasst wurde, als sie sich ihren großen, jovialen Bruder vorstellte. Seit sie ihre Mutter verloren hatten, war er so übervorsichtig gewesen, dass es Kate jetzt nicht im Geringsten überraschte, dass er eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte. Mit seinen gerade einmal fünfundzwanzig Jahren hatte er bereits eine alte Seele besessen. Er hatte stets versucht, auf alles vorbereitet zu sein. Dies hier entsprach genau seiner Art, sich um seine kleine Schwester zu kümmern. Als Kate mit dem Brief im Schoß dasaß, spürte sie, wie ihr wieder Tränen in die Augen stiegen. Was jetzt? Was nützte das jetzt noch, da ihr Vater Bronty zum Verkauf anbot? Was nützte es jetzt noch, da Annabelle auf dieser Farm so gut wie alle Erinnerungen ausgelöscht hatte? Kate hatte ihren Vater inzwischen so oft vor den Kopf gestoßen, dass er jetzt bestimmt keine Liebe mehr für sie empfinden konnte.
Sie steckte den Brief in ihre Hosentasche. Ein ungeheurer Zorn trieb sie an, als sie die Treppe hinunterstieg, durch den Flur stürmte und dann das Haus verließ. Draußen hatten inzwischen Nebel und ein feiner Nieselregen den zuvor noch so sonnigen Tag in ein trübes Grau verwandelt. In ihr schrie alles nach Rache. Sie musste diese verfluchte Bande wissen lassen, dass sie das einfach nicht zulassen würde. Aber wie? Sie ließ ihren Blick langsam über die Weiden schweifen. Nah am Haus sah sie eine Herde Schafe auf einer Weide, ungefähr hundertfünfzig junge Hammel. Sie holte die Hunde von der Ladefläche des Pick-ups und lief zum Tor hinüber. Dann schickte sie Grumpy nach vorn, während sie BH und Sheila zunächst noch bei Fuß gehen ließ. Bald waren die Schafe auf dem Hof. Jetzt trieben alle drei Hunde die Herde auf sie zu. Sie stieß das schmale Gartentor auf und wartete, bis der Leithammel die Lücke entdeckte. Als die Tiere alle im Garten waren, schloss Kate das Tor wieder und sah dann voller Genugtuung zu, wie die hungrige Herde die Blumenbeete zertrampelte und an den Rosen knabberte.
Aber das reichte Kate bei Weitem noch nicht. Rasend vor Zorn öffnete sie die Haustür. Die ersten Schafe musste sie noch hineinschieben,
aber als Grumpy bellend auf ihre Rücken sprang und die beiden anderen Hunde den Tieren auf der Veranda keine Ausweichmöglichkeit ließen, trappelten die Hammel schon bald durch den Flur und traten dann vorsichtig auf den weichen, cremefarbenen Teppich in Annabelles Wohnzimmer. Porzellanfiguren fielen zu Boden und wurden von scharfen, gespaltenen Hufen zertrampelt. Die kitschige vergoldete Uhr landete, mit dem Zifferblatt nach unten, in
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