Australien 01 - Wo der Wind singt
Küchentisch sitzen sehen wie den Kapitän eines auf Grund gelaufenen Schiffes.
Sein eingefallenes, graues Gesicht. Den leblosen Ausdruck seiner Augen. Plötzlich spürte sie einen heftigen Zorn in sich aufsteigen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrem Bruder hatte er die Wahl gehabt. Sie mussten sterben, obwohl sie das Leben geliebt hatten, Lance hingegen hatte sich bewusst dafür entschieden, seiner Familie das anzutun. Kates Zorn wuchs immer mehr. Sie fragte sich, ob Lance, als er beschlossen hatte, aus dem Leben zu scheiden, gewusst hatte, dass er eine Enkeltochter hatte. Die Worte lagen plötzlich auf ihrer Zunge, und bevor sie sie zurückhalten konnte, hörte sie sich fragen: »Hat er gewusst, dass er Großvater ist?«
»Nein«, sagte Nick. »Er ist nicht mehr aufgewacht. Ich habe es ihm gesagt, aber er konnte mich nicht mehr hören. Er konnte mich nicht mehr hören.«
Kate wusste, dass Nick weinte. Sie bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen.
»Ich bin sicher, dass er das konnte, Nick. Ich bin mir ganz sicher, dass er alles gehört hat, was du ihm gesagt hast«, sagte Kate. »Er hat es noch erfahren, bevor er starb.«
Sie wollte ihm noch sagen, dass Lance ihn sehr geliebt hatte, aber die Worte wollten einfach nicht über ihre Lippen. Wie konnte er seinen Sohn geliebt haben, wenn er sich doch dafür entschieden hatte, ihn alleinzulassen? Sie wartete.
»Es war meine Schuld«, sagte Nick schließlich leise.
»Nein, das war es nicht. Wie sollte es denn …«
»Es war meine Schuld«, unterbrach Nick sie. »Er hat einfach nur seine Medikamente durcheinandergebracht. Und das war zu viel für seinen kaputten Körper. Normalerweise hat Felicity sie ihm immer gegeben. Wenn ich nicht …« Seine Stimme brach. »Wenn sie noch immer, du weißt schon, ich meine, wenn sie noch da gewesen wäre, dann wäre das nicht passiert.«
Kate wusste, dass er sie nicht verletzen wollte. Die Trauer hatte ihn in eine Art Schockzustand versetzt. Dennoch packte sie angesichts der Situation die schiere Verzweiflung. Sie wollte ihn fragen, was er wirklich wollte. Eine Krankenschwester für seinen Vater oder eine
Partnerin für sich selbst? Dann aber gewann das Mitgefühl für ihn wieder die Oberhand.
»Niemand ist schuld«, sagte sie. Wieder war da nur dieses Schweigen, unterbrochen von einem lauten Scheppern. Offenbar drehte er den Hörer in der Hand hin und her.
Schließlich sagte er: »Ich muss jetzt aufhören.«
»Okay«, sagte Kate leise. Dann war die Leitung tot.
Kate wanderte ruhelos wie ein Geist in dem kleinen Haus von Zimmer zu Zimmer. Starrte durch das Fenster in den hellen Tag hinaus. Das Sommergewitter in der Woche zuvor hatte das Gras auf den Weiden sprießen lassen. Sogar die Bäume sahen in ihrem grünen, sommerlichen Gewand jetzt wieder gesund und kräftig aus. Kleine Wattewölkchen segelten über den blauen Himmel und warfen seltsam geformte Schatten über die Landschaft. Kate nahm das alles jedoch nicht wahr. Alles, woran sie denken konnte, war: Nicks Vater ist tot . Die Worte gingen ihr wieder und wieder durch den Kopf. Sie kannte dieses unendlich tiefe Loch des Kummers, in dem Nick sich jetzt befand, nur allzu gut. Sie wusste, dass er für sie in nächster Zeit unerreichbar wäre. Sie verstand seinen Schmerz.
Dann dachte sie an ihre eigene Familie. An das, was davon noch übrig war. Sie hatte Nell, und dann war da noch Tante Maureen. Aber das war nicht genug. Früher gab es auch noch ihre Eltern und Will. Sie waren ihre Welt gewesen. Ihr Vater hatte fest zu dieser Welt dazugehört. Sie hatte ihn geliebt, und sie war sich sicher, dass auch er sie geliebt hatte. Es war an der Zeit, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
Kate wurde plötzlich klar, dass sie die Wahl hatte: Sie konnte weiterhin jedem Kontakt mit ihrem Vater aus dem Weg gehen und Annabelle die Schuld an der Kluft zwischen ihnen geben. Sie konnte jedoch auch auf ihn zugehen, auf beide, bevor es zu spät war und der Tod ihr diese Entscheidung abnahm.
Kate wurde angesichts dieser Erkenntnis von einer Art Euphorie gepackt. Sie musste Nell erst in ein paar Stunden bei Janie abholen.
Sie hatte also genügend Zeit, nach Bronty zu fahren. Kate packte den Sanierungsplan, den sie für Bronty erstellt hatte, in ihre Tasche, nahm ihren Hut von der Garderobe und ging dann zu ihrem Pick-up. Plötzlich hatte sie jedoch das Gefühl, dass sie ein paar Verbündete brauchte. Sie ließ deshalb Grumpy und Sheila aus ihren Zwingern. Sie ließ auch BH
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