Australien 01 - Wo der Wind singt
dann hatte sie ihren schlanken Finger ausgestreckt und auf das Schild an der Wand gezeigt. An ihren Handgelenken hatten kleine, glänzende Goldamulette geklimpert. Ein hellblauer Lidschatten hatte ihre großen, unschuldigen Augen betont. Auf ihren hübschen, geschminkten Lippen hatte ein freundliches Lächeln gelegen, und im Ausschnitt ihrer feinen weißen Bluse hatte ein Hauch von weißer Spitze geblitzt. Henry war noch nie einer Frau begegnet, die so elegant war. Ihr Parfum hatte, noch lange nachdem sie gegangen war, in der Luft gehangen. Als Henry seine Sachen ausgepackt und seine Kabine wieder verlassen hatte, hatte er sich auf die Suche nach Annabelle gemacht, so fasziniert war er von ihr.
Annabelle sah jetzt von dem Stuhl, auf dem sie barfüßig stand, zu ihm hinunter und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß wirklich nicht, wie Kate auf die Idee kommt, dass wir für sie und ihre Tochter in diesem Haus noch Platz haben.«
»Wir müssen es irgendwie hinkriegen. Abgesehen davon glaube ich, dass es sowieso nur für kurze Zeit ist«, versuchte Henry sie zu beruhigen. »Sie hat Will gesagt, dass sie vielleicht in der Stadt ein Büro mieten will. Er hat ihr allerdings vorgeschlagen, dass sie sich ihr Büro auf dem Dachboden einrichten könnte.«
»Auf dem Dachboden! Ach, Henry, das kann er doch nicht ernst meinen.«
Henry war von dem Vorschlag seines Sohnes genauso wenig begeistert. Er war kurz vor Laneys Tod das letzte Mal dort oben gewesen und wollte seine Erinnerungen auf keinen Fall wieder auffrischen, indem er dort hinaufstieg.
Er hörte gerade im Radio, dass die Viehpreise stiegen und dass mit noch trockenerem Wetter zu rechnen sei. Vielleicht war jetzt ein günstiger Zeitpunkt, die Ochsen zu verkaufen. Vor dem Winter Ballast abzuwerfen. Annabelle zupfte an den Vorhängen herum und schimpfte. Henry warf einen Blick zu ihr hinauf.
Er erinnerte sich daran, wie Laney hier in ebendieser Küche gesessen und die Vorhänge genäht hatte. Den Kopf über ihre Arbeit gebeugt, während ihr langes dunkles Haar über ihre Schultern nach vorn gefallen war, so dass ihr blasser Nacken zu sehen gewesen war. Er hatte ihre glatte Haut dort berührt, und sie hatte zu ihm hochgesehen und gelächelt.
Henry sah Annabelle jetzt dabei zu, wie sie die alten Vorhänge achtlos auf den Boden warf. Dann nahm sie die Plastikverpackung mit den fertig konfektionierten Spitzengardinen und riss sie auf. Sie nahm die Gardinen aus der Verpackung und schüttelte den duftigen Stoff auseinander.
»Amy muss für ihre Prüfungen lernen. Also kann sie unmöglich aus Kates altem Zimmer ausziehen. Und da Aden jetzt auch wieder öfter zu Hause ist, werden wir hier aus allen Nähten platzen!«
Henry, der den Kopf schief gelegt hatte, um sein Interesse zu signalisieren, nickte stirnrunzelnd. Im Radio würde als Nächstes die Langzeitwettervorhersage kommen, außerdem wäre auch Will bald zum Mittagessen hier. Dann würde er zusammen mit ihm entscheiden,
ob er die Ochsen verkaufen sollte. Sie mussten außerdem darüber sprechen, was sie mit Kate und ihrem Kind machen würden. Annabelle hatte Recht. Länger als ein paar Tage konnten sie die beiden nicht unterbringen. Jetzt, da er wusste, dass er seine Tochter schon bald wiedersehen würde, spürte er einerseits eine nervöse Vorfreude, andererseits war da immer noch diese Bitterkeit. Eine Art schwelender Zorn, der ihn in den vergangenen Jahren von Kate ferngehalten hatte. Es war dies ein Zorn, hinter dem er seine Schuldgefühle verstecken konnte. Er machte es ihm leichter, sich vor sich selbst dafür zu rechtfertigen, dass er keinen Kontakt zu ihr hatte. Wie in einer Endlosschleife sagte er im Geiste immer wieder vor sich hin, dass sie es gewesen war, die ihn nicht mehr in ihrem Leben haben wollte. Sie war jetzt eine erwachsene Frau. Sie hatte sich entschieden zu gehen. Sie hatte das Kind von ihm ferngehalten.
Annabelle wedelte mit der Spitzengardine in seine Richtung.
»Außerdem ist dieses Haus in keiner Weise kindersicher. Soll ich mich wirklich um eine Dreijährige kümmern? Man kann von mir doch nicht erwarten, dass ich mich um die Kinder anderer Leute kümmere! Ich habe meine eigenen Kinder großgezogen, und ich denke, das ist genug.«
»Kate erwartet von dir bestimmt nicht, dass du ständig auf das Kind aufpasst, da bin ich mir sicher«, sagte Henry.
Annabelle ließ sich jedoch nicht beruhigen. »Was ist, wenn sie in der Stadt keine geeigneten Räumlichkeiten findet? William verstreut seine
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