Australien 01 - Wo der Wind singt
Gesicht, was offensichtlich »einigermaßen« bedeuten sollte.
»Kaffee, Amy?«, fragte Will und hielt einen Becher hoch.
Sie schüttelte den Kopf, nahm sich einen Apfel und verschwand
dann wortlos wieder aus der Küche. Will sah ihr nachdenklich hinterher, dann löffelte er löslichen Kaffee in eine Tasse.
»Ich könnte später deine Hilfe gebrauchen, Dad«, sagte er. »Ich muss oben auf dem Dachboden ein paar von den schwereren Sachen umstellen.«
»Nimm doch die Sackkarre. Die steht im Schuppen«, sagte Henry.
»Gut«, sagte Will. Er setzte sich, den Becher in der Hand, schwerfällig an den Küchentisch und rührte dann einige Zeit schweigend in seinem Kaffee. Er konnte es gar nicht erwarten, mit Kate zusammen die Koppeln an der Küste abzureiten und mit ihr seine Pläne für die Farm zu besprechen. Pläne, über die sich schon seine Mutter und sein Vater unterhalten hatten, bis Laney krank geworden war. Entwürfe für eine Zukunft, die jetzt im Dachgeschoss vor sich hin schlummerten. Will war gerade von dort oben heruntergekommen. Das Dachgeschoss verlief über die gesamte Länge des ursprünglichen Farmhauses und schien eine ganz eigene Persönlichkeit zu besitzen. Es brummte mürrisch, wenn die Sonne allzu heiß vom Himmel brannte, oder knackte ärgerlich, wenn der Frost das Blechdach in seinen eisigen Griff nahm. Manchmal, vor allem bei stürmischem Wetter, war es dort oben ziemlich laut und ungemütlich. An anderen Tagen herrschte eine geradezu feierliche Stille, als würde der Raum über das, was er beherbergte, nachsinnen – die Samen, die Träume ihrer Mutter.
Laney hatte Kate und Will oft mit hinaufgenommen, damit sie dort spielen konnten und sicher auch, damit sie irgendwann einmal die landwirtschaftlichen Visionen ihrer Mutter teilten. Es war ihr wichtig gewesen, dass ihre Kinder so viel wie möglich über die Vergangenheit der Familie erfuhren. Die Vergangenheit, die dort, akribisch katalogisiert und aufbewahrt wurde und die ihnen den Weg in die Zukunft weisen sollte. Manchmal war Laney auch an Regentagen mit ihnen hinaufgestiegen, damit sie dem Trommeln des Regens auf dem Dach lauschen konnten. Dann hatte sie ihnen stets erklärt, dass der Regen klang, als würde Gott Nägel vom Himmel herabschleudern. Sie hatten auf dem alten Perserteppich gelegen und zu der nackten Glühbirne hinaufgesehen, die an einem Kabel von der Decke herabhing. Bei
dem gewaltigen Krach, den der Regen machte, hatten sie kaum noch ihr eigenes Wort verstanden. Sie hatten es genossen, sich auf dem warmen, trockenen Dachboden aufzuhalten, während es draußen in Strömen goss, und hatten sich dabei über die banalsten Dinge wie zum Beispiel Wills wackelnde Zehen in seinen Socken vor Lachen geradezu ausgeschüttet. Über den wild zusammengewürfelten Stapeln verschiedenster Dinge befand sich ein kleines Fenster mit einer Scheibe aus dicken, ungleichmäßigen Glasquadraten, durch das man einen Blick auf das verzerrte Meer werfen konnte. Es hatte den Anschein gehabt, als würden die schweren hölzernen Samenschränke, deren Schubladen ihre Großmutter mit ihrer ordentlichen Handschrift sorgfältig beschriftet hatte, ihnen und ihrem fröhlichen Treiben lächelnd zusehen. Dies alles waren Erinnerungen, die Will auch heute noch begleiteten. Er wünschte sich nichts mehr, als dass Kate bald wieder hier wohnen würde, damit er diese Erinnerungen mit ihr teilen und auf Bronty eine Zukunft aufbauen konnte. Er kippte seinen Kaffee hinunter und ging nach draußen, um die Sackkarre aus dem Schuppen zu holen.
Kapitel 6
O ben auf der höchsten Stelle des Hügels fuhr Kate langsamer und brachte dann schließlich ihren Pick-up auf dem mit Gras bestandenen Seitensteifen zum Stehen. Der Highway zog sich vor ihr an der Küste entlang wie eine sich windende, endlos lange schwarze Schlange. Heute war die See kabbelig. Ein kräftiger Wind schob die Wolken über einen pudrig blauen Himmel. Der Anblick der dunklen Pinien, die rund um das Farmhaus von Bronty wuchsen, löste in Kate gemischte Gefühle aus. Dies war ihr Zuhause. Es war ihr so vertraut. Und dennoch kam es ihr jetzt irgendwie fremd vor, da sie wusste, dass Annabelle sich dort eingenistet hatte.
»Schau, Nell. Das dort ist Bronty«, sagte sie, um sich selbst ein wenig Mut zu machen, »die Farm, von der ich dir erzählt habe. Mamis altes Zuhause. Unser neues Zuhause.«
Nell war viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Schuhbänder miteinander zu verknoten, um aus dem Fenster zu sehen.
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