Australien 01 - Wo der Wind singt
Kate seufzte. Sie fuhr wieder auf den Highway und dann den Berg hinunter auf Bronty zu. Als der Pick-up über das Viehgitter holperte, warf Kate einen Blick auf die von Bäumen gesäumten Bäche, die von den Bergen herunterstürzten, um ihr Wasser schließlich in die Lagune zu ergießen, einen stillen, hauptsächlich mit dem Wasser der Flut gefüllten Teich, der mit Wasservögeln aller Art gesprenkelt und von hohen gelbbraunen Gräsern umgeben war.
Kate lächelte, als sie Matilda sah, die auf der abschüssigen Pferdekoppel entspannt auf dem Boden lag und sich von der Herbstsonne ihre runden braunen Flanken wärmen ließ. Neben der Stute stand Paterson, Wills kastanienbrauner Wallach mit gesenktem Kopf und hängender Unterlippe.
Auf der anderen Seite der Zufahrtsstraße hoben sich einjährige, noch ungeschorene Schafe mit ihrem hellen Weiß von dem gesprenkelten
Graugrün der Rübenpflanzen ab. Sie wandten ihnen neugierig ihre schneeweißen Gesichter zu. Das mussten die Merinoschaflämmer sein, die Will erst vor Kurzem gekauft hatte, schloss Kate und war erfreut zu sehen, wie gleichmäßig ihre Konturen waren. Der Geruch der Schafe drang in den Pick-up, und Sheila, die zusammengerollt auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, erhob sich. Sie starrte die Tiere mit ihren trüben alten Augen an und leckte sich das Maul.
»Wir sind zu Hause, Sheila«, sagte Kate und kraulte den Hund hinter den Ohren. Als sie jedoch zum Haus hinübersah, spürte Kate, wie ihre innere Anspannung wuchs. Sie konnte sich einfach nicht überwinden, schon jetzt dorthin zu fahren.
Stattdessen steuerte sie den Pick-up über die Weide auf die Pferdekoppel zu. Das nagelnde Geräusch des Dieselmotors veranlasste Matilda den Kopf zu heben. Auch Paterson spitzte die Ohren.
Als sich der Pick-up näherte, rappelte Matilda sich auf, schüttelte sich träge und kam dann an den Zaun getrottet. Kate lächelte. Sie hatte ihr Pferd die ganzen Jahre nicht gesehen. Das in der Sonne glänzende Fell und der runde Bauch sagten Kate, dass es ihrer Stute gut ging. Will hatte offensichtlich ihre Hufe gut gepflegt und regelmäßig ihre Mähne und den Schweif gebürstet.
»Schau, Nell! Das ist Mamis altes Pferd.«
Nells Gesicht erhellte sich, als Kate sie aus dem Pick-up klettern ließ, sie an die Hand nahm und dann mit ihr zum Zaun ging. Sie hob Nell hoch, damit sie ihre Hand auf Matildas Stirn legen konnte.
»Pferti!«
»Das ist Matilda … Und das andere Pferd heißt Patto. Das gehört deinem Onkel Will. Das sind beides Waler. Die Soldaten haben früher immer Waler geritten. Prima Aussie-Pferde!« Kate setzte Nell wieder ab.
»Prima«, wiederholte Nell, während sie sich am Draht des Zaunes festhielt und, ein Auge wegen der Sonne zugekniffen, begeistert zu der Stute hochsah. Kate schlüpfte durch den Zaun, legte ihren Arm um Matildas dicken Hals und atmete ihren süßen, moschusartigen Geruch ein.
Bilder von ihrer Mutter stiegen plötzlich vor ihrem inneren Auge auf. Laney in Gummistiefeln, wie sie die beiden Pferde noch in der Dunkelheit in den Transporter führte. Wie sie den kurvenreichen Highway an der Küste entlang in die Stadt fuhren, damit Will und Kate mit ihren Walern zum örtlichen Frühgottesdienst reiten konnten. In der eisigen Luft und als »Der letzte Posten« gespielt wurde, hatten sie an den frostigen Anzac-Day-Morgen eine Gänsehaut bekommen. Später hatte ihre Mutter ihnen dann in der winzigen Bäckerei, die stets mit dem süßen Duft von Teig und einer behaglichen Wärme erfüllt war, heiße Schokolade gekauft. Während Kate und Will Marshmallows in ihr Getränk rührten, hatten ihnen Kriegsveteranen auf den Rücken geklopft und sich bei ihnen dafür bedankt, dass sie die beiden Militärpferde für den Gottesdienst von so weit hergebracht hatten. Laney hatte immer Zeit gehabt – Zeit für die alten Städter, für die Pferde, für ihre Kinder. Damals hatte keiner von ihnen geahnt, dass ihr selbst nur noch so wenig Zeit blieb.
Kate schlüpfte wieder unter dem Zaun hindurch und hob Nell dann hoch. Vielleicht fand sie ja hier, auf Bronty, mehr Zeit für sie. Sie konnte ihr ein kleines Pony kaufen und mit ihr zur Bäckerei fahren, um ihr dort etwas Süßes zu kaufen. All das lag jetzt vor ihnen. Ein neues Leben.
Sie drehte sich um und sah das Farmhaus an. Es wurde von Eichen und Pappeln umrahmt, deren Laub zu dieser Zeit des Jahres gelb und grün gesprenkelt war. Sie warf auch einen Blick auf das Dachfenster, ein dunkles Quadrat, und sehnte
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