Australien 01 - Wo der Wind singt
war sie immer wieder in die Küche zu ihren Schulbüchern zurückgekehrt. Sie war damals in der elften Klasse.
»Musst du deinen ganzen Kram hier drinnen ausbreiten?«, hatte ihr Vater sie immer wieder angefahren. Er hatte es gehasst, dass ihr langes dunkles Haar genau wie das ihrer Mutter über ihre Schultern fiel. Kate hatte ihn dann immer böse angesehen, hatte ihre Bücher vom Tisch geräumt und war wortlos in ihr Zimmer gegangen. Nur Will mit seinem stets fröhlichen Gesicht und seinem unnachahmlichen Humor war es dann gelungen, sie wieder herauszulocken.
In den Jahren, in denen ihre Mutter so tapfer gekämpft hatte, hatten Kate und ihr Vater genau dasselbe getan. Aber sie hatten dabei ganz unterschiedliche Dämonen bekämpft, hatten sich dabei gegenseitig mit zusammengebissenen Zähnen böse angezischt. So leise, dass Laney sie nicht hörte. Will hatte immer versucht, sie beide auf seine sanfte, freundliche Art zu besänftigen.
Kate hatte noch drei Jahre gebraucht, um ihren Abschluss zu machen,
ihre Mutter hatte ebenfalls noch drei Jahre gebraucht, um zu sterben. Als Kate die Schule beendet hatte, ein Jahr später als ihre ehemaligen Klassenkameraden, hatte es kein Festessen, keine Feier und keinen Abschlussball gegeben. Nur ein Begräbnis. Etwas mehr als ein halbes Jahr später, war Annabelle in ihr Zuhause eingedrungen.
Auf der anderen Seite des Meeres stand Annabelle in der Küche auf einem Stuhl und nahm die ausgeblichenen grün karierten Vorhänge ab. Die Küchenfenster sahen zu den Koppeln hinaus. Hinter den Koppeln lagen die Dünen und der Strand. Dahinter lag das Meer. Heute mischte sich ein türkiser Farbton in das tiefe Blau. Annabelle wandte ihren Blick blinzelnd von der strahlenden Schönheit des Strandes ab und sah nach oben, um sich wieder mit den hölzernen Vorhanghaken zu beschäftigen.
»Die Dinger sind vielleicht staubig!«, sagte sie zu Henry, der geduldig neben ihr stand und den Stuhl festhielt, während er gleichzeitig versuchte, etwas von den Mitteilungen für die Landwirtschaft im Radio mitzubekommen, auch wenn das Rundfunkgerät auf der Küchenanrichte nur leise vor sich hin murmelte.
Er sah durch die halb abgehängten Vorhänge hindurch zu den beiden knorrigen alten Pinien hinaus, die die Einfahrt zur Farm flankierten. Obwohl er wusste, dass Kate in ebendiesem Augenblick noch auf dem Schiff war, erwartete er fast, dass sie jede Sekunde durch das Tor fahren würde. Allein schon der Gedanke machte Henry nervös. Noch mehr beunruhigte ihn allerdings die Tatsache, dass er in Kürze zum ersten Mal seine Enkeltochter sehen würde. Er starrte die Pinien an, die sein Großvater, Kates und Wills Urgroßvater anlässlich der Geburt seines ersten Sohnes feierlich gepflanzt hatte. Ihre dicken Äste beschatteten ein rostiges Schild, auf dem »Bronty« stand. Henrys Vater hatte dieses Schild dort aufgehängt. Damals war es nagelneu und weiß gestrichen gewesen. Er hatte es an dem Tag aufgehängt, als er seine frisch angetraute Ehefrau nach Hause geführt hatte. Zwei Jahre später war dann ihr einziger Sohn während eines Sturms zur Welt gekommen, der so heftig gewesen war, dass das Schild heruntergerissen wurde.
»Dieses Schild wieder aufzuhängen«, pflegte Henrys Vater zu sagen, »war die erste Aufgabe, die du hier erledigt hast, mein Sohn. Deine Mutter meinte damals zwar, dass es viel zu windig wäre, um dich mit nach draußen zu nehmen, aber du warst in deinem Kinderwagen so warm eingepackt, da konnte nichts passieren. Du warst damals erst ein paar Tage alt und hast mir schon da draußen geholfen.«
Henry überlegte, ob er Annabelle bitten sollte, das neue Schild, das sie in Auftrag gegeben hatte, wieder abzubestellen. Er mochte das alte. Andererseits fand er es gar nicht schlecht, dass sie sich um das Haus kümmerte, neue Sachen anschaffte und neue Dinge in Angriff nahm. Jetzt, da Annabelle im Haus war, stand die Zeit niemals still, und es fiel ihm schwer, in der Vergangenheit zu verweilen.
Henry, der noch nie in seinem Leben eine Kreuzfahrt gemacht hatte, war Annabelle zum ersten Mal in einem der langen, leeren Korridore des Schiffes begegnet, auf dem Kate eine Reise für ihn gebucht hatte. Er war gerade auf der Suche nach seiner Kabine gewesen, als er Annabelle sah. Sie hatte diese Perfektion und Raffinesse an sich, wie sie nur Städterinnen zu eigen ist. Sie hatte mit ihrem langen, rosa lackierten Fingernagel auf die Kabinennummer getippt, die auf seiner Bordkarte aufgedruckt war,
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