Australien 01 - Wo der Wind singt
mit der Landwirtschaft, das habe ich inzwischen gelernt.« Annabelle lächelte sie sichtlich angespannt an.
Kate spürte, wie in ihr wieder der Zorn aufstieg, als sie ihre Stiefmutter jetzt ansah. Annabelle stand genau an der Stelle, wo ihre Mutter immer gestanden hatte. Ihre schlanke Figur wurde von den Spitzenvorhängen, die hinter ihr am Fenster hingen, eingerahmt. Sie trug eine bunt gestreifte Schürze und Hausschuhe im Martha-Stewart-Stil.
Kate sah im Geiste ihre Mutter, die auf den abgenutzten Bodendielen neben der Spüle stand, vor sich. Ihre Mutter, die immer nur in abgeschnittenen Jeans und einem von Henrys Arbeitshemden mit hochgekrempelten Ärmeln und vor dem Bauch geknoteten Hemdzipfeln im Haus gearbeitet hatte, während ihr dabei ihre dunkle Mähne auf die Schultern gefallen war. Kate sah ihm Geiste jetzt auch wieder Will, der um ihre Mutter herumtanzte und ihr mit einem zusammengerollten Geschirrtuch lachend einen Klaps auf den Hintern versetzte.
Jetzt hob Annabelle ein Geschirrtuch hoch, verzog dabei das Gesicht und nieste laut hinein.
»Guter Gott! Pferdehaare.« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. »Ich bin schrecklich allergisch gegen Pferdehaare.« Sie zeigte in Richtung der Außendusche. »Würde es dir etwas ausmachen zu duschen, Kate? Wenn du hierbleiben willst, dann sei doch bitte so gut und lass deine Sachen in der Waschküche. Dort kannst du dich auch umziehen.«
Kates Augen wurden schmal. Annabelle tat so, als wäre rein gar nichts geschehen. So, als wäre Will nicht gerade erst gestorben. Sie hätte diese unsensible Frau, die da vor ihr stand, am liebsten laut angeschrien. Stattdessen schloss Kate einen Moment lang die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Sie musste höflich und zuvorkommend bleiben. Nell zuliebe.
»Ja, das mache ich«, sagte sie. »Aber zuerst muss ich mit Dad sprechen. Es dauert nicht lange.«
Janie kam jetzt zu ihnen und räusperte sich. »Kate, entschuldige bitte, aber es wird langsam wirklich spät. Ich sollte die Kinder jetzt besser nach Hause bringen. Wir sehen uns dann später, okay? Du kannst selbstverständlich auch bei uns bleiben, wenn du das willst. Wenn nicht, kann Dave dir morgen deine Sachen bringen.«
Kate sah die dunklen Ringe, die Janie unter ihren müden Augen hatte, und fühlte dabei ihrer Freundin gegenüber sowohl Dankbarkeit wie auch ein Gefühl der Schuld.
»O Gott, Janie. Es tut mir leid. Danke! Du weißt, was ich meine. Danke! Ich kann einfach nicht mehr richtig denken.«
Janie umarmte Kate und flüsterte ihr dabei ins Ohr:
»Das alles tut mir so leid. Wirklich. Es tut mir so wahnsinnig leid. Ich hab dich lieb, das weißt du.« Kate erwiderte ihre Umarmung. »Versuch es einfach, Kate«, flüsterte Janie ihr dann noch zu. »Nell zuliebe. Und auch für Will. Bitte.«
Kate traf ihren Vater nicht in seinem Büro an. Der alte, zerkratzte Ledersessel stand mit dem Rücken zu dem alten Rollpult. Das Zimmer war verlassen. Kate schloss die Tür des Büros hinter sich und drehte sich dann um, um in einem anderen Flur des weitläufigen, alten Hauses nach ihrem Vater zu suchen. Dann sah sie jedoch, dass die Treppe, die zum Dachboden hinaufführte, heruntergelassen war. Durch den länglichen Ausschnitt in der Decke fiel helles Tageslicht in den Gang. Kate blinzelte, schluckte und ging dann auf das Licht zu. Schließlich stieg sie langsam die Treppe zum Dachboden hinauf.
Henry saß, noch in seiner Anzughose und dem Hemd, das er zur Beerdigung getragen hatte, an dem großen, alten Schreibtisch. Er hatte die Krawatte gelockert und die Ärmel hochgekrempelt, so dass seine sonnengebräunten Arme zu sehen waren. Es waren die kräftigen Arme eines Farmers. In seiner schwieligen Hand hielt er ein Glas mit Whisky.
Das Knarren der Leiter und das leise Ächzen der Bodendielen verrieten Kate. Henry blickte auf. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Kate blieb unter der Dachschräge stehen und sah sich langsam im Raum um. Atmete den staubigen Geruch von Erinnerungen ein. Die Umarmung ihrer Mutter. Wills Lachen.
Der Dachboden sah noch genauso aus wie früher, dachte Kate und war darüber unglaublich erleichtert. Sie spürte, dass der Raum von den Energien der Vergangenheit erfüllt war – jener sanften, aber beharrlichen Kraft der Webster-Frauen, die schon lange vor ihr an diesem Ort gelebt hatten. Hier und jetzt in ebendiesem Raum fühlte Kate sich zum ersten Mal wieder zu Hause.
Auch wenn der Dachboden mit vielen alten Möbeln vollgestellt war,
Weitere Kostenlose Bücher